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Land im Abwärtssog

Jahresrückblick 2013. Heute: Afghanistan. Chaos nach zwölf Jahren NATO-Besatzung. Über 80 Prozent Analphabeten. Militärische Präsenz bleibt nach "Abzug" erhalten

Von Knut Mellenthin *

In Afghanistan beginnt in wenigen Tagen das Jahr des »Abzugs« der USA und ihrer Verbündeten, der bis Ende 2014 abgeschlossen sein soll. Den leidgeprüften Afghanen, deren Leben nun schon seit 33 Jahren durch ununterbrochenen Krieg und Bürgerkrieg geprägt wird, stehen vermutlich wieder etliche Festakte, verlogene Reden eingeflogener westlicher Politiker, Fahneneinholungen und ähnlicher Unsinn bevor.

Tatsache ist jedoch, daß mit diesem zur Schau gestellten »Abzug« die Militärintervention der NATO noch lange nicht zu Ende sein soll: Mindestens bis 2024, also noch weitere elf Jahre von jetzt an gerechnet, will die US-Regierung in Afghanistan »militärisch präsent« bleiben. Es wird damit gerechnet, daß die USA zwischen 10000 und 15000 Mann dauerhaft in Afghanistan behalten wollen. Hinzu kämen wahrscheinlich mehrere tausend Soldaten aus anderen Ländern, darunter 600 bis 800 Deutsche, so daß sich eine Summe von etwa 20000 ergäbe.

Grundlage dafür ist das Stationierungsabkommen, das die USA im November mit dem Kabuler Regime ausgehandelt haben. Daß Präsident Hamid Karsai sich seither ziert und drückt, seine Unterschrift unter das Papier zu setzen, ist ohne praktische Bedeutung. Wen er überhaupt noch repräsentiert, ist unklar, nachdem sogar die von ihm selbst einberufene »Volksversammlung« nicht nur dem Abkommen zugestimmt hat, sondern Karsai auch ausdrücklich aufforderte, das Dokument noch vor Jahresende zu unterzeichnen.

Das ist freilich nur ein willkürlicher Termin, den die US-Regierung erfunden hat, ebenso wie sie in den vergangenen zwei Jahren immer wieder neue Daten setzte, bis zu denen der Vertrag angeblich unbedingt in Kraft treten müsse. US-Außenminister John Kerry brachte während eines Besuchs in Kabul Anfang Dezember die Möglichkeit ins Spiel, daß ebenso gut auch Verteidigungsminister Bismillah Khan Mohammadi das Papier unterschreiben könnte. Und spätestens nach der Präsidentenwahl am 5. April 2014, zu der Karsai nicht wieder antreten darf, gibt es ohnehin ein neues Staatsoberhaupt. Es ist jedoch keineswegs sicher, daß die Obama-Administration Karsai nicht vorher durch einen Mordanschlag oder einen Putsch beseitigen läßt, falls er ihren Plänen ernsthaft im Weg stehen oder beispielsweise die Annäherung ans Nachbarland Iran zu demonstrativ betreiben würde.

So gut wie ausgeschlossen ist hingegen das Szenario, das gelegentlich von westlichen Politikern und Medien als Drohung beschworen wird: die sogenannte Null-Option, der wirkliche Abzug sämtlicher ausländischen Truppen Ende 2014. Dafür ist Afghanistan strategisch viel zu wichtig. Im Stationierungsabkommen sind neun Städte aufgezählt, in oder bei denen die USA mindestens zehn Jahre lang exklusive Nutzungsrechte für Stützpunkte, Gebäude und Grundstücke behalten wollen. Diese Liste kann »im Einvernehmen« sogar noch jederzeit erweitert werden.

Am Finanztropf

Außerdem könnte sich keine vorstellbare afghanische Regierung einen Bruch mit den USA und ihren Verbündeten leisten. Denn ohne Unterzeichnung des Stationierungsabkommens mit den USA würde es, das wurde unzählige Male ganz offen und sehr laut ausgesprochen, die in Aussicht gestellte Finanzhilfe nicht geben. Allein im militärischen Bereich soll diese bei vier Milliarden jährlich liegen, die zum größten Teil von den USA aufgebracht werden müßten. Eine ähnlich hohe Summe soll an Wirtschaftshilfe gezahlt werden. Über diese Dinge gibt es allerdings noch keine gesicherten Angaben und Zusagen. Auch das unterschriftsreife Stationierungsabkommen enthält dazu bezeichnenderweise keine Aussagen.

Afghanistan ist ein Land am Finanztropf, das schnell kollabieren würde, sobald das Geld nicht mehr flösse. Pro Kopf gerechnet hat es das niedrigste Bruttoinlandsprodukt der Welt. Zehn Prozent davon gehen für Militärausgaben drauf, was den dritten Platz in der Weltrangliste bedeutet. Die Arbeitslosigkeit wird offiziell mit 35 Prozent angegeben, der unter der Armutsgrenze lebende Bevölkerungsanteil mit 36 Prozent. Auch nach zwölf Jahren NATO-Besatzung, angeblich riesigen Anstrengungen der beteiligten Staaten und Investitionen in Milliardenhöhe können über 80 Prozent der Afghanen auch heute nicht lesen und schreiben. Der Anteil der Analphabeten liegt in den Streitkräften und bei der Polizei etwa auf gleicher Höhe. Das zeigt, daß dies im wesentlichen weder ein Problem des Alters noch des Geschlechts ist.

Die CIA gab die afghanischen Staatsausgaben für das Jahr 2012 mit kümmerlichen vier Milliarden Dollar an. Ihnen standen Einnahmen von nur 2,25 Milliarden gegenüber. Es gibt in Afghanistan kaum ordentlich registrierte Unternehmen, und es werden nur sehr wenig Steuern gezahlt. Gleichzeitig habe Afghanistan aber 2010/2011, so die CIA ohne Aufschlüsselung dieser Zahl, 15,7 Milliarden Dollar aus dem Ausland »empfangen«.

Die afghanische Regierung operiert mit etwas anderen Zahlen. Ihr zufolge sollte der Staatshaushalt 2013 Ausgaben in Höhe von sieben Milliarden Dollar aufweisen. Davon würden, so hieß es bei der Beschlußfassung über den Etat Anfang November 2012, 54 Prozent aus eigenen Einnahmen und 46 Prozent durch ausländische Geldgeber gedeckt werden.

Die Gesamtsumme der nach Afghanistan geflossenen nicht-militärischen Auslandshilfe gab die International Crisis Group 2011 mit 56,8 Milliarden Dollar an. Davon hätten die USA mit 37,1 Milliarden rund zwei Drittel getragen. Auf dem zweiten Platz lag Japan mit drei Milliarden. Deutschland, dessen Politiker sich immer gern als Anwälte der armen Menschen in Afghanistan auf die Schulter klopfen, hatte mit 762 Millionen eher bescheiden agiert und plazierte sich hinter Großbritannien, Kanada und sogar den Niederlanden. Inzwischen sind die Hilfsgelder weiter gelaufen. Einige Schätzungen sehen die Summe jetzt bei 100 Milliarden Dollar. Das entspräche knapp 16 Prozent der militärischen Kriegskosten der USA, die – niedrig angesetzt – auf etwa 640 Milliarden Dollar geschätzt werden. Noch nie ist auch nur annähernd so viel Geld mit derart minimalen Resultaten in die Entwicklung eines Landes investiert worden.

Leere Drohung

Afghanistan hat ungefähr 200000 Soldaten und 160000 Angehörige der sogenannten Nationalen Polizei – in Wahrheit eine paramilitärische Truppe – unter Waffen. Zum Vergleich: Die Streitkräfte des hochgradig militarisierten Pakistan sind ungefähr dreimal so groß, aber das Land hat auch sechsmal so viele Einwohner wie Afghanistan. Kabul wäre ohne regelmäßige, zuverlässig abgesicherte massive ausländische Zahlungen über 2014 hinaus nicht einmal in der Lage, seine Sicherheitskräfte zu bezahlen. Das Regime müßte sie dann nach Hause schicken oder zusehen, wie sie auseinanderlaufen und die Rekrutierungsbasis von Taliban, Warlords und kriminellen Banden anschwellen lassen. Die Grenzen zwischen diesen sind allerdings fließend.

Der absolute, durch nichts mehr zu beschönigende Zusammenbruch Afghanistans würde allerdings nicht nur die »Sicherheitsinteressen« der USA gefährden, sondern auch eine zentrale Lüge der Obama-Administration bloßstellen: Daß der Krieg dort, im Gegensatz zu dem im Irak, gut und notwendig gewesen sei. Schließlich war es Barack Obama, der die Afghanistan-Intervention seit Beginn seiner Amtszeit vor fünf Jahren drastisch ausweitete und damit sowohl die Zahl der getöteten und verletzten US-Soldaten als auch die Kriegskosten steil in die Höhe schießen ließ.

Vor diesem Hintergrund ist die »Null-Option« – kein Stationierungsabkommen, keine ausländischen Truppen, keine Hilfsgelder mehr – eine offensichtlich leere Drohung. Nötig wird sie nicht einmal sein, da die USA afghanische Strohmänner genug finden würden, falls Karsai ausnahmsweise standhaft bleiben und seine Unterschrift verweigern würde.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 18. Dezember 2013


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