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Palästinenser hoffen auf Rückenwind

Aufstand in Ägypten begeistert die Bevölkerung

Von Peter Schäfer, Ramallah *

In Palästina gibt es drei Haltungen zum Aufstand in Ägypten: Die Bevölkerung begrüßt ihn begeistert, die Hamas ist unentschlossen und die Fatah lehnt ihn ab.

»Das Volk will den Sturz des Systems.« Die berühmte ägyptische Forderung war am vergangenen Sonnabend auch auf einem Protestmarsch in Palästina zu hören. Zwar sollten ägyptische Fahnen darauf hinweisen, dass damit die Regierung Mubarak gemeint war. »Aber allen war klar, dass unsere Rufe auch auf unsere eigene Regierung zielen«, sagte eine Teilnehmerin. Als gegen Ende des Marsches ein Trupp von etwa 50 Fatah-Angehörigen dazustieß, die ein Hoch auf Präsident Mahmud Abbas ausbrachten, »gingen alle nach Hause und die Fatah-Gruppe blieb alleine auf dem Platz.«

In Palästina gebe es drei Haltungen zum Aufstand in Ägypten, erläuterte die Aktivistin: »Ablehnung durch die Regierung in Ramallah, Vorsicht der Hamas in Gaza und stürmische Begeisterung der Bevölkerung«. Tatsächlich sagen viele: »Die Ägypter haben uns nach Jahrzehnten der Demütigung unseren Stolz als Araber wiedergegeben.« Die Leute sitzen vor dem Fernseher und wissen, dass eine Systemänderung in Ägypten weitreichende Folgen für Palästina und die ganze Region hätte.

Die Reaktion der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah war vorhersehbar. Präsident Abbas (Fatah-Bewegung) sicherte Husni Mubarak Unterstützung für »ägyptische Sicherheit und Stabilität« zu. Die kontrollierten Medien erwecken den Eindruck, als hätten sie vom Geschehen im Nachbarland kaum etwas mitbekommen. Und ein Jugendlicher, der über facebook eine Solidaritätskundgebung für Ägypten organisieren wollte, wurde flugs verhaftet. Offenbar will man Kritik nicht riskieren, solange das System Mubarak noch besteht, da es beispielsweise in den Verhandlungen mit der Hamas, den Machthabern im Gaza-Streifen, auf Seiten der Ramallah-Behörde steht. Selbst die von der PA finanziell abhängige säkulare Opposition, auch die politische Linke, verhielt sich zunächst zurückhaltend und zeigt ihre Solidarität mit dem ägyptischen Aufstand erst seit Mitte letzter Woche.

»Die PA ist, mit westlicher Hilfe, auf dem Weg zum Polizeistaat ohne Staat«, sagt der Menschenrechtsaktivist Mamduh al-Aker. Alle Regimes fürchten, dass Demonstrationen außer Kontrolle geraten könnten. Wie die ägyptische NDP ist auch die palästinensische Fatah nicht nur Bewegung oder Partei, sondern das System. Und wie in Ägypten sind auch hier politische, wirtschaftliche und militärische Interessen eng miteinander verknüpft, teils in Personalunion.

Das Unwohlsein über die Vorkommnisse in Ägypten eint die zerstrittenen Machthaber in Ramallah und Gaza. Auch im Gaza-Streifen wurden selbst zarte Ansätze für Solidaritätsbekundungen von der Hamas unterbunden. Obwohl sie spinnefeind ist mit Mubarak, Suleiman und Co., wird sie von den Entwicklungen am Nil nicht nur profitieren. Zwar ist davon auszugehen, dass jede andere ägyptische Regierung die Grenzen zum Gaza-Streifen öffnet. Danach wäre allerdings, so der palästinensische Journalist Hani al-Masri, mit einer israelischen Wiederbesetzung dieser Grenze zu rechnen. Al-Masri rechnet überhaupt mit zunehmendem militärischen Muskelspiel Israels, das »ägyptische Verhältnisse« nicht dulden will.

Darüber hinaus, das zeigt die ägyptische Bevölkerung deutlich, gibt es nun neben der islamistischen eine nicht-religiöse Alternative zur arabischen Diktatur. »Insgesamt werden wir von Veränderungen in Ägypten profitieren«, hofft ein Palästinenser aus Ramallah. »Die Regierung nach Mubarak definiert den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag neu und stoppt die Erdgaslieferungen an Israel. Außerdem wird unsere Verhandlungsposition gegenüber Israel gestärkt.«

Es gibt aber auch solidarische Stimmen, die die Ägypter mahnen, aus der palästinensischen Erfahrung zu lernen. »Wollen Sie die politische Temperatur des Nahen Ostens messen, schauen Sie nach Ägypten«, schrieb der Managementberater Sam Bahour in der Tageszeitung »Guardian«, »interessieren Sie aber die Möglichkeiten zu ernsthafter, nachhaltiger Reform, blicken Sie nach Palästina!« Bahour geht es vor allem um ausländische Interessen und die lokalen Regimes, die diese Interessen umsetzen und Veränderungen verhindern. »Erst wenn die Völker des Nahen Ostens Reformen ernst nehmen und ihre Massenproteste zu anhaltenden, organisierten Bemühungen verwandeln, die alle gesellschaftlichen Aspekte aufgreifen«, wären sie erfolgreich. Bis dahin werde man noch viele ausländische und lokale Initiativen zur Verhinderung eines demokratischen Systems sehen. Im Westjordanland unterstützen USA und EU seit Jahren ein restriktives System und präsentieren diese Unterstützung als Demokratieförderung und Entwicklungshilfe.

* Der Autor leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah

Aus: Neues Deutschland, 10. Februar 2011



Drohung mit Kriegsrecht

Von Karin Leukefeld, Kairo **

Mit einer unverhohlenen Warnung vor Putsch und Chaos hat der ägyptische Vizepräsident Omar Suleiman die Lage am Mittwoch (9. Feb.), dem 16. Tag der Protestbewegung gegen Präsident Hosni Mubarak, verschärft. Vertreter der Opposition interpretierten Suleimans Äußerungen als Drohung mit dem Kriegsrecht.

Am Dienstag abend (8. Feb.) hatte Mubaraks Stellvertreter bei einem Treffen mit Chefredakteuren mehrerer Zeitungen erklärt, die »Krise« müsse ein Ende finden. Einen Rücktritt des Präsidenten und ein Ende des Regimes schloß er definitiv aus. Die Regierung wolle die Forderungen der Demonstranten nach demokratischen Reformen per Dialog lösen und nicht die Polizei gegen »die ägyptische Gesellschaft« einsetzen. Ohne Dialog könne das Regime die Lage nur durch einen »Putsch« in den Griff bekommen, was »hektische Entscheidungen und viel Unvernunft« bedeute. Ein Putsch könne »vom Regime selbst oder vom Militär« kommen, wenn das System nicht mehr funktioniere, so Suleiman. »Polizei, Geheimdienst oder die Muslim-Bruderschaft« könnten das Regime durch »kreatives Chaos« stürzen und »die Macht übernehmen«.

Auf dem Tahrir-Platz in Kairo gingen die Proteste derweil unvermindert weiter. Am Dienstag (8. Feb.) hatten sie sich auch vor das Parlamentsgebäude verlagert, wo etwa 2000 Demonstranten die ganze Nacht über einen Sitzstreik abhielten. Die Blockade wurde am Mittwoch fortgesetzt. Neben dem sofortigen Rücktritt des Präsidenten verlangt die Protestbewegung auch die Auflösung des Parlaments, in dem fast ausschließlich Abgeordnete der Nationalen Demokratischen Partei (NDP) vertreten sind. Weiter fordern die Demonstranten die Aufhebung des Ausnahmezustandes und die Freilassung aller Gefangenen. Das Innenministerium teilte inzwischen mit, daß sowohl am Dienstag als auch am Mittwoch viele der etwa 500 Gefangenen entlassen worden seien. Ein Bündnis von fünf Oppositionsgruppen rief am Mittwoch für den morgigen Freitag erneut zu einem »Protest der Millionen« auf, der erstmals nicht nur auf dem Kairoer Tahrir-Platz, sondern auch an anderen Orten der Hauptstadt stattfinden soll.

In verschiedenen Städten streikten am Mittwoch (9. Feb.) Industriearbeiter und Beschäftigte des öffentlichen Sektors, um die Proteste der Demokratiebewegung zu unterstützen. In Alexandria und Suez gingen Augenzeugenberichten zufolge am Mittwoch erneut Zehntausende auf die Straße. 400 Kilometer südlich von Kairo, in der Oasenstadt Al Chargo, wurden bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei mindestens drei Menschen erschossen, mehr als hundert wurden verletzt. Das berichtete die Nachrichtenagentur AFP. Nach Informationen aus Sicherheitskreisen schoß die Polizei mit scharfer Munition auf die Menge. Die Demonstranten setzten daraufhin sieben staatliche Einrichtungen in Brand, darunter zwei Polizeiwachen, eine Polizeikaserne, ein Gerichtsgebäude und die örtliche Parteizentrale der NDP.

In der ägyptischen Hauptstadt verlautete, daß keine Palästinenser mehr einreisen dürfen. Das sagte am Mittwoch (9. Feb.) ein Grenzbeamter am Kairoer Flughafen gegenüber AFP, nachdem zwölf palästinensische Reisende abgewiesen worden waren. Einen Grund nannte er nicht. Ein Mitarbeiter der palästinensischen Vertretung in Kairo bestätigte das Einreiseverbot.

** Aus: junge Welt, 10. Februar 2011


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