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Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht

von Dr. Dieter Deiseroth (vormals Richter am Oberverwaltungsgericht Münster)

Die Anwendung militärischer Gewalt gegen einen anderen Staat durch einen Einzelstaat oder mehrere in einem Bündnis zusammengeschlossene Staaten verletzt, auch wenn sie nicht als Krieg, sondern als "humanitäre Intervention" deklariert wird, den Tatbestand des völkerrechtlichen Gewaltverbots des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta.

Dies ergibt sich bereits aus dem insoweit eindeutigen Wortlaut ("ordinary meaning") der einschlägigen Regelung des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta. Denn dem völkerrechtlichen Gewaltverbot unterfällt "jede" Art der Anwendung oder Androhung von Waffengewalt durch einen Staat, sofern sie gegen (1) die "territoriale Integrität" oder (2) die "politische Unabhängigkeit" eines anderen Staates gerichtet ist oder (3) "sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen" unvereinbar ist. Der durch Art. 2 Ziff.4 UN-Charta umfassend geschützte Anspruch auf Achtung der "territorialen Integrität" eines Staates beinhaltet, dass jedenfalls kein militärischer Übergriff auf das Staatsgebiet eines Staates vorgenommen werden darf. Die Anwendung von militärischer Waffengewalt (Raketenangriffe, Bombardierung etc.) gegen das Territorium und die Bevölkerung eines Staates greift eklatant in dessen territoriale Integrität (Unversehrtheit) ein und verletzt diese; sie stellt durch die Beeinträchtigung und Zerstörung der angegriffenen Ziele einen massiven Übergriff auf das Staatsgebiet dar, und zwar unabhängig davon, ob die Gewaltanwendung subjektiv auf die Eroberung des Gebietes zielt oder nicht. Angesichts dessen kann offenbleiben, ob die bei einer (nicht vom UN-Sicherheitsrat beschlossenen) "humanitären Intervention" erfolgende Anwendung von militärischer Gewalt auch gegen die zweite ("politische Unabhängigkeit") oder die dritte Verbotsalternative ("sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt") verstößt. Denn bereits das Erfüllen der ersten Alternative begründet einen Verstoß gegen Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta.

Auch aus dem Zusammenhang ("context") der einschlägigen Bestimmungen ergibt sich dieses Auslegungsergebnis. Da nämlich Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta selbst keine Ausnahme von dem statuierten Gewaltanwendungs- und -androhungsverbot vorsieht, heißt dies: Sofern sonst nach der UN-Charta keine rechtfertigende Ausnahme eingreift, bleibt es bei diesem umfassenden Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt, und zwar unabhängig davon, aus welchem Motiv heraus oder mit welchem Ziel der die Gewalt androhende oder anwendende Staat handelt.

Die Entstehungsgeschichte ("drafting history of the treaty") der Vorschrift führt zu keinem anderen Befund als die Wortlautinterpretation, sondern bestätigt diese. Die Staaten, die die Einfügung dieser Modalitäten in den Text des Art. 2 Ziff. 4 auf der Konferenz von San Francisco durchsetzen konnten, wollten den Schutz der "territorialen Unversehrtheit" und der "politischen Unabhängigkeit" besonders hervorgehoben wissen; eine Einschränkung des in der Vorschrift statuierten Gewaltverbots war nicht beabsichtigt.

Das mitunter vertretene - teleologische - Argument, das nach dem Normtext umfassende Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta stehe unter dem Vorbehalt eines funktionierenden kollektiven Sicherheitssystems, vermag sich weder auf den Wortlaut noch auf die Systematik oder die Entstehungsgeschichte der Charta zu stützen. Auf der UN-Gründungskonferenz in San Francisco wurde gerade auch über ein mögliches Versagen des in der UN-Charta vorgesehenen Friedenssicherungssystems beraten. Konsequenz dieser Befürchtungen war die Verankerung des Selbstverteidigungsrechtes des Art. 51 UN-Charta, in dem normiert worden ist, dass die UN-Charta im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein UN-Mitglied "keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung (beeinträchtigt), bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat". Eine - zum Mißbrauch geradezu herausfordernde - Befugnis der UN-Mitgliedstaaten, etwa unter Berufung auf einen Wegfall der Geschäftsgrundlage das Gewaltverbot und das kollektive Sicherheitssystem der UN-Charta beiseite zuschieben, sollte damit gerade vermieden und negiert werden.

Daraus läßt sich zugleich auch die normative Zielsetzung, also der Zweck der Regelung ableiten, dass nämlich nach der UN-Charta die Anwendung militärischer Gewalt nur noch in denjenigen Fällen rechtmäßig sein soll, die in der Charta als Ausnahmen von Art. 2 Ziff. 4 ausdrücklich normiert sind: Art. 42 (= Gewaltanwendung durch den UN-Sicherheitsrat), 51 (= individuelle und kollektive Selbstverteidigung) und 53 (= Gewaltanwendung durch regionale Sicherheitseinrichtung mit Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates) der UN-Charta. Auch die Staatenpraxis ("subsequent practice") gibt zu einer anderen Auslegung des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta keine Veranlassung.

Von 1945 bis heute sind 17 militärische Aktionen von Staaten zu konstatieren, bei denen sich die Frage der einzelstaatlichen "humanitären Intervention" (zumindest auch) stellte: die Militäreinsätze
  1. Belgiens und
  2. der USA im Kongo in den Jahren 1960 und 1964, das US-amerikanische Eingreifen in der Dominikanischen Republik im Jahre 1965,
  3. der 1971 erfolgte Einmarsch der indischen Streitkräfte in Ost-Pakistan (Bangladesh),
  4. die Invasion Indonesiens in Ost-Timor,
  5. die Besetzung des Nordteils von Zypern durch die Türkei im Jahre 1974,
  6. die Intervention Syriens im Libanon (1975),
  7. das Eingreifen Vietnams in dem von den Roten Khmer (Pol Pot-Regime) drangsalierten Kambodscha (1979),
  8. die Intervention Tansanias in Uganda (1979),
  9. die Militärintervention Frankreichs in dem von dem Diktator Bokassa beherrschten Staat Zentralafrika (1979),
  10. die - offiziell nicht eingeräumte - Mitwirkung Spaniens an dem Sturz des Diktators Nguema in Äquatorialguinea (1979), die Militärinterventionen der USA
  11. in Grenada (1983),
  12. in Nicaragua (1981) und
  13. in Panama (1989),
  14. das Eingreifen von Truppen der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (ECOWAS) im August 1990 im Bürgerkrieg in Liberia,
  15. die militärischen Interventionen der USA und des Vereinigten Königreichs zugunsten der Schiiten und Kurden im Irak (seit 1991) sowie
  16. der Luftkrieg von zehn NATO-Staaten gegen Jugoslawien (seit dem 24. März 1999).
Die rechtliche Beurteilung dieser 17 u.a. mit humanitären Zielsetzungen gerechtfertigten Interventionen ist bis heute uneinheitlich und kontrovers geblieben. Es gibt mithin keine allgemein anerkannte Staatenpraxis und keine dem zugrunde liegende einheitliche Rechtsauffassung der Staaten. Die Staatenpraxis kann schon deshalb zur Rechtfertigung der "humanitären Intervention" im Rahmen des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta nicht herangezogen werden.

Eine Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta kommt für eine (militärische) "humanitäre Intervention" durch Einzelstaaten oder ein Staatenbündnis ebenfalls nicht in Betracht. Denn das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung ist nach Art. 51 UN-Charta nur "im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen" gegeben. Völker und Volksgruppen sind zwar Träger von Menschenrechten (z.B. des Selbstbestimmungsrechts der Völker), sie sind jedoch jedenfalls keine "Mitglieder der Vereinten Nationen", wie Art. 51 UN-Charta es ausdrücklich fordert.

Das galt auch im Falle der NATO-Luftangriffe gegen Jugoslawien im Jahre 1999. Der Ausnahmefall des Art. 51 UN-Charta, der die Notwehr und Nothilfe zugunsten eines angegriffenen Staates rechtfertigt, lag evidentermaßen nicht vor, denn keiner der NATO-Staaten war militärisch angegriffen worden; kein Staat, der Opfer einer militärischen Aggression gewesen wäre, hatte um Nothilfe gebeten.

Teilweise wird auch behauptet (z.B. von dem früheren Bundespräsidenten Roman Herzog), es gebe - unabhängig von Art. 51 UN-Charta - im Völkerrecht ein gewohnheitsrechtliches Recht von Staaten zur "Nothilfe" zugunsten einer von ihrem Heimatstaat drangsalierten ethnischen Minderheit. Dabei wird freilich übersehen, dass die beiden Grundvoraussetzungen für das Bestehen von Völkergewohnheitsrecht insoweit gerade nicht vorliegen: eine diesbezügliche übereinstimmende allgemeine Staatenpraxis und eine dem zugrundeliegende allgemeine Rechtsüberzeugung. Ob es sich ein solches Recht unter Umständen später einmal entwickeln wird, ist für die Beurteilung der gegenwärtigen Rechtslage ohne Bedeutung.

Soweit im Fachschrifttum und in der öffentlichen Diskussion teilweise behauptet wird, seit Anfang der 90er Jahre sei hinsichtlich der gewohnheitsrechtlichen Anerkennung und Geltung der "humanitären Intervention" ein Wandel der völkerrechtlichen Lage eingetreten, ist dies unzutreffend.

Selbst wenn vielleicht heute mehr Staaten als früher nunmehr eine "humanitäre Intervention" für zulässig halten sollten - die Abstimmungspraxis über einschlägige Resolutionen in der UN-Generalversammlung spricht allerdings für das Gegenteil - , würde dies dennoch zu keinem anderen völkerrechtlichen Ergebnis führen. Denn für eine völkergewohnheitsrechtliche Anerkennung und Geltung eines Rechts zur "humanitären Intervention" (ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates) fehlen nach wie vor die notwendigen völkerrechtlichen Voraussetzungen: Weder eine diesbezügliche dauerhafte, (einigermaßen) einheitliche und allgemein verbreitete Staatenpraxis noch eine gemeinsame Rechtsüberzeugung von der Geltung eines solchen Rechtssatzes sind vorhanden bzw. entstanden. Damit gibt es keine gewohnheitsrechtliche Rechtfertigung der "humanitären Intervention" durch Einzelstaaten oder Staatenbündnisse. Dies haben u.a. auch die Reaktionen auf die 1999 erfolgte "humanitäre Intervention" der zehn NATO-Staaten in Jugoslawien ("Kosovo-Krieg") gezeigt, die international zwar teilweise Verständnis und Zustimmung, aber auch erhebliche Kritik gefunden hat (vgl. etwa die Stellungnahmen der Regierungen Rußlands, Chinas, Indiens, Südafrikas und vieler anderer UN-Mitgliedsstaaten. So hat etwa der damalige südafrikanische Präsident Nelson Mandela die Entscheidung der Regierungen der NATO-Staaten, den UN-Sicherheitsrat nicht einzubeziehen und aus eigenem Entschluß ohne UN-Mandat Luftangriffe zu beginnen, als "unverantwortlich" bezeichnet; er verurteilte zwar mit Entschiedenheit die "Verbrechen des Regimes in Belgrad", warf der NATO aber vor, letztlich "genau dasselbe wie Milosevic" zu tun, indem sie "Zivilisten ermordet und in Jugoslawien Brücken und die Infrastruktur zerstört".

Die Ausführungen des Autors beruhen im wesentlichen auf Überlegungen, die dieser erstmals in NJW (Neue Juristische Woschenschrift) 1999, 3084 ff publiziert hat.

Aus: Friedenspolitische Korrespondenz, 1/2001

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