Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Afghanistan und kein Ende - und was 2009 sonst noch geschah

Eröffnungsreferat zum 16. Friedenspolitischen Ratschlag

Von Peter Strutynski

Liebe Friedensfreundinnen und –freunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine sehr verehrten Damen und Herren.

Es mag wie eine Floskel klingen, wenn ich zu Beginn dieser Konferenz darauf hinweise, dass aus friedenspolitischer Sicht ein ereignisreiches Jahr zu Ende geht. In unserer schnelllebigen Zeit, in der Ereignisse aus allen Winkeln der Erde - medial zugerichtet - zu globalen Katastrophen hochgepusht werden – gute Nachrichten bringen keine Quote, sie kommen aber, wenn wir ehrlich sind, auch nicht so häufig vor – in einer solchen Zeit fällt es zunehmend schwer, einen größeren Zeitraum zu überblicken, und es fällt noch schwerer, in größeren Zusammenhängen zu denken. Genau darauf aber sind wir als Wissenschaftler, als engagierte Bürger und Friedensaktivisten angewiesen.

Zwei der drei Adressaten unserer Friedensratschläge, nämlich die Wissenschaft und die Friedensbewegung, habe ich damit benannt. Fehlt die dritte Gruppe, die wir regelmäßig mit unseren Konferenzen ansprechen wollen, die Politikerinnen und die Politiker. Und ich habe sie mit Bedacht ausgelassen. Wird doch von ihnen am allerwenigsten erwartet, dass sie in größeren räumlichen, zeitlichen und sachlichen Zusammenhängen denken und danach handeln.

Vielleicht müssen wir eine besondere Spezies von Politikern ausnehmen: die ministeriablen Spitzenpolitiker à la Franz Josef Jung, Wolfgang Schäuble, von und zu Guttenberg, von der Leyen und wie sie künftig noch alle heißen werden. Sie verfügen über ein derart universelles Allgemeinwissen und haben einen derart geschulten Blick auf die feinsten Verästelungen nicht nur des eigenen, sondern auch anderer Fachdisziplinen, dass es ihnen keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten scheint, jegliches Ministeramt zu bekleiden. Nur in den seltensten Fällen stellt sich heraus, dass das eigentlich gar nicht gehen kann. Und wäre Franz Josef Jung nicht über eine nicht mehr zu vertuschende Eselei seines früheren Ressorts gestolpert, so hätte er doch gut und gerne noch vier weitere Jahre in dem neuen Ressort gestümpert. Und was adelt einen ohnehin schon adeligen Wirtschaftsminister, dass er mir nichts dir nichts in das Verteidigungsministerium wechselt? Er mag eine bessere „Figur“ abgeben als sein dem Winzermilieu entstammender Vorgänger (womit ich um Gottes Willen nicht gegen den ehrenwerten und nützlichen Berufsstand des Winzers gesagt haben möchte). Wir haben das sehen können bei seinem Antritts-Truppenbesuch in Afghanistan, als er, ganz in der Tradition seines freiherrlichen Standes, seine Soldaten in schneidigem Ton an ihren Kampfauftrag erinnerte. Und es zeugt von der inhaltsleeren und gedankenlosen Medien-Berichterstattung, wenn zu Guttenberg heute mit den besten Publicity-Noten versehen wird, nur weil er den Krieg in Afghanistan endlich auch einen Krieg nennt und weil er einräumt, beim Kundus-Massaker (so nennt er das natürlich nicht) seien militärische Fehler gemacht worden. Gleichzeitig – und das zeugt von altem Korpsgeist - stellt er sich weiterhin voll hinter den verantwortlichen Kommandeur Oberst Klein, der den Befehl zum Luftangriff auf die beiden Tanklastzüge gegeben hatte.

Nun muss ich aber zur Ehre der gewöhnlich bei unseren Ratschlägen anwesenden und mitwirkenden Politikerinnen und Politikern hinzufügen, dass es sehr wohl auch Exemplare dieser Gattung gibt, die ihren Beruf nicht den Medien zuliebe ausüben und nicht jedem von der Bertelsmann-Stiftung ausgestreuten Stichwort hinterher hecheln, sondern die an der Gestaltung des politischen Gemeinwesens ein echtes Interesse haben. Dass solche Parlamentarier im Farbenspektrum dieser Republik eher rot-grün als schwarz-gelb und somit eher auf der linken Seite anzutreffen sind, dürfte kein Zufall sein. (Ich sagte rot-grün, wohl wissend, dass die Partei gewordene grüne Bewegung alles getan hat, um diese schöne Farbe in Misskredit zu bringen.) Denn die Linke – und ich meine hier ausdrücklich nicht nur die sich so nennende Parteiformation – sollte gelernt haben, in historischen Zusammenhängen zu denken und ökonomische, politische und soziale Probleme unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen, von Macht und Herrschaft also, zu analysieren.

„Die Verflechtung von tiefer Rezession, finanzieller Kernschmelze, fortschreitender Umweltzerstörung und sozialer Polarisierung signalisiert eine Krise des gesamten neoliberalen Entwicklungstyps, der sich in den letzten 30 Jahren herausgebildet hat und mittlerweile zur Vorherrschaft gelangt ist.“ So heißt es im diesjährigen Memorandum der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2009). Mein ökonomisch nicht geschulter Verstand sagt mir, dass der Super-GAU der Finanzmärkte auf lange Sicht wohl noch das geringere Problem sein wird. Die Deutsche Bank beispielsweise hat im letzten Jahr einen Milliardengewinn eingefahren und Bankchef Ackermann schraubt die angestrebte Gewinnmarge für die nächste Geschäftsperiode noch wesentlich höher. Auf der Hauptversammlung der Deutschen Bank verteidigte er sein zuvor verkündetes und in der Öffentlichkeit auf Kritik gestoßene Renditeziel von 25 Prozent (Stern-online, 26.05.2009).

Das eigentliche Problem besteht darin, dass die Realwirtschaft in den Sog der größten Finanzmarktkrise seit 80 Jahren geraten ist. Die hektisch vorgenommenen Konjunkturstimulanzien, die jeden ökologischen Gedanken vermissen lassen, und die vorübergehend Linderung verschaffenden sozialen Abfederungsmaßnahmen von Massenarbeitslosigkeit werden nicht verhindern können, dass die Volkswirtschaften vieler EU-Länder in den nächsten Monaten in einer tiefen Krise verbleiben werden. Hinzu kommt die Globalität der Krise, die kaum Nischen, Umwege oder Abkürzungsstrategien zulässt.

In welch dramatischer Weise sich die weltweite Rezession auf die schwach entwickelten Länder und deren Bevölkerungen in der Dritten Welt auswirkt, können wir nur ahnen. Bereits heute leidet über eine Milliarde Menschen unter chronischem Hunger, und die Zahl der Hungernden wächst unablässig weiter. Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter (das ist der Nachfolger des in Friedenskreisen gut bekannten Globalisierungskritikers Jean Ziegler), hat am 6. April anlässlich der Vorlage einer Studie des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) in der UN-Vollversammlung (Olivier de Schutter 2009) die Probleme in ihrer ganzen Dramatik benannt: Alle sechs Sekunden sterbe ein Kind an Unterernährung, sagte er. Schuld an der Katastrophe sei unter anderem der „unfaire internationale Handel“, der die erforderlichen Investitionen in die Landwirtschaft seit drei Jahrzehnten vielerorts verhindert habe. Und der Präsident der letztjährigen Vollversammlung, Miguel d'Escoto Brockmann (2009), warnte in derselben Sitzung davor, dass das Heer der Hungernden unter der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise sowie den Auswirkungen des Klimawechsels noch mehr zu leiden habe als alle anderen.

Analysen über die Auswirkungen vergangener Wirtschaftskrisen belegen die Folgen sinkender Wirtschaftsleistung: Ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um drei Prozent lässt die Armut von Familien explodieren. Die Kindersterblichkeitsrate steige „geradezu mechanisch“ um 47 bis 120 pro 1000 Lebendgeburten an. Jüngste Wirtschaftsdaten bestätigen diese Sorgen. Man könne davon ausgehen, dass sich die Wachstumsraten der Entwicklungsländer im Jahr 2009 halbieren werden, so Peter Wolff vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (Beutler 2009). Das bestätigt auch eine Weltbank-Studie (World Bank 2009): In 94 von 116 untersuchten Ländern sei ein akuter Abschwung zu beobachten. Die erste Folge ist Massenarbeitslosigkeit. So verlor Kambodscha 2008 bereits 30.000 Jobs in der Textilindustrie. In den Bereichen Schmuck, Autos und Bekleidung brachen in Indien im letzten Quartal 2008 eine halbe Million Stellen weg. Laut Weltbank sind in Asien 140 Millionen Menschen von extremer Armut bedroht. Von Afrika – obwohl nur relativ schwach in den Weltmarkt integriert – gar nicht zu reden! Der schwarze Kontinent leidet unter Exporteinbrüchen bei Öl, Kaffee, Diamanten und Grunderzeugnissen. Die Spekulation des reichen Nordens mit Nahrungsmitteln habe zu einer massiven Verteuerung geführt - in Ruanda hätten sich die Preise für Lebensmittel und Energie vervierfacht. Benin, Burundi, Liberia, Mosambik und Niger stehen laut der Kindernothilfe vor dem Staatsbankrott.

Die öffentliche Betroffenheit angesichts solchen realen Horrors ist gerade in der Adventszeit hoch. Und genauso hoch ist das Entsetzen, wenn die Medien Bilder von hungernden Kindern, von blutigen Bürgerkriegen oder von ausgemergelten und hoffnungslosen Kriegsflüchtlingen bringen. Doch die Betroffenheit reicht über die Adventszeit nicht hinaus und führt außer zu einigen entlastenden Almosen für „Brot für die Welt“ zu keinen weiteren Schlussfolgerungen. Der Systemcharakter all des Elends, den ich versucht habe anzudeuten, kommt weder der breiten Öffentlichkeit noch den eventhoppenden Medien in den Blick.

Damit bin ich wieder bei den Ereignissen, von denen das Jahr 2009 bestimmt war. Wer spricht heute noch über den Gaza-Krieg? Wer empört sich heute noch über das beschwichtigende Verhalten der USA und anderer westlicher Staaten in diesem Konflikt? Und wer unterstützt den Menschenrechtsrat und die übergroße Mehrheit der UN-Vollversammlung in ihrem Bemühen, die in diesem Krieg begangenen Kriegsverbrechen restlos aufzuklären und die Schuldigen vor Gericht zu bringen?

22 Tage lang, vom 27. Dezember 2008 bis zum 17. Januar 2009, bombardierten israelische Kampfflugzeuge den dicht besiedelten Gazastreifen, drangen mit Bulldozern und schweren Panzern in Städte und Siedlungen ein, töteten mehr als 1.400 Palästinenser, die Hälfte von ihnen Frauen und Kinder, und machten auch vor Krankenhäusern, Schulen und Einrichtungen der Vereinten Nationen nicht Halt.

Der Krieg war einseitig. Er war geprägt von der militärischen Überlegenheit Israels, die sich in gut organisierten Truppen, modernstem militärischen Gerät und einer High-Tech-Bewaffnung sowie einem nicht versiegenden Nachschub an Waffen und Munition ausdrückt.

Wenn der Begriff des „asymmetrischen Krieges“ überhaupt einen Sinn macht, dann ist er hier anzuwenden. 99 Prozent der auf beiden Seiten getöteten Soldaten und Zivilpersonen sind auf der Seite der Palästinenser zu beklagen, ein Prozent, nämlich 12 Soldaten und eine Zivilperson auf israelischer Seite. Unabhängig also von der Frage, ob Israel ein „Recht“ zu militärischen Aktionen gegen Hamas hatte und ob die Angriffe auf Gaza von einem breit ausgelegten Verteidigungsbegriff noch gedeckt sein könnten, deuten die Einseitigkeit der Kampfhandlungen und die krasse Unverhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel darauf hin, dass es sich bei der israelischen Kriegführung um einen Verstoß gegen das Völkerrecht, insbesondere gegen das Gewaltverbot nach Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta, und eine eklatante und fortgesetzte Verletzung des humanitären Kriegsvölkerrechts handelte.

Spätestens an dieser Stelle wird von einem friedensbewegten deutschen Staatsbürger, noch dazu wenn er sich politikwissenschaftlich oder im weitesten Sinne innerhalb der Zunft der Friedensforschung äußert, das Bekenntnis abverlangt, das Verhalten der palästinensischen Seite doch bitte mit derselben Eindeutigkeit zu verurteilen. Man kann das tun und etwa darauf verweisen, dass das – offenbar äußerst ziellose oder ungenaue – Abfeuern von Raketen auf israelisches Territorium völkerrechtswidrig ist, und zwar gleichgültig ob und wie viele Zivilpersonen dabei zu Schaden kommen. Doch damit endet bereits die Gleichheit der Vergehen gegen das internationale Recht. Und genau das hat auch die vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzte Untersuchungskommission in ihrem Bericht – dem sog. Goldstone-Bericht- betont und ist dafür von der israelischen Regierung und von den USA und in deren Schlepptau auch von der Bundesregierung gescholten worden.

In diesem Licht verlieren alle Zumutungen des politischen Mainstreams hier zu Lande an die Adresse der Friedensbewegung und Friedensforschung, ihre Kritik gleichmäßig an die beiden Konfliktparteien zu verteilen, ihre scheinbare Unschuld der Neutralität. In letzter Konsequenz verbirgt sich darin nichts anderes als die Aufforderung, den israelischen Krieg zumindest indirekt zu rechtfertigen. Dazu bin ich nicht bereit. Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte mit dem historisch unvergleichlichen Nazi-Verbrechen an sechs Millionen Juden während des Zweiten Weltkriegs sind wir verpflichtet, Unrecht Unrecht und Kriegsverbrechen Kriegsverbrechen zu nennen und die Sache derjenigen zu vertreten, deren Menschenrechte tagtäglich verletzt werden.

Ich bin auch nicht bereit, ein wie immer geartetes Verständnis für den seit acht Jahren währenden Krieg gegen und in Afghanistan zu äußern. Dieser Krieg wurde und wird nicht um der Menschen- oder Frauenrechte Willen geführt. Das ist im Nachhinein zur besseren Legitimation des Krieges erfunden worden. In den USA wurde der Krieg anfänglich allein mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus begründet und in Deutschland mit der „uneingeschränkten Solidarität“ mit den USA. Die Menschenrechtsargumente wurden nachgeschoben – so wie jeder Krieg gegenüber der eigenen Bevölkerung mit Argumenten aus dem Arsenal des Gutmenschen bzw. aus dem Vokabular des Konzepts „Responsibility to Protect“, der „Verantwortung zu schützen“ gerechtfertigt wird.

„Jede Form von Gewalt in internationalen Angelegenheiten wurde und wird praktisch mit der 'Verantwortung zu schützen' gerechtfertigt“, sagte Noam Chomsky bei einer Anhörung der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 23. Juli 2009. Und er belegt das mit drei Beispielen: dem japanischen Angriff auf die Mandschurei, Mussolinis Einmarsch in Äthiopien und Hitlers Besetzung von Teilen der Tschechoslowakei. „Alle drei Einmärsche“, so Chomsky, „ waren begleitet von hochtrabender Rhetorik über die heilige Pflicht, eine leidende Bevölkerung zu schützen sowie von faktischen Rechtfertigungen. Dieses Grundmuster ist bis heute erkennbar.“

Als vorgestern der Bundestag über die Verlängerung der Kriegsteilnahme entscheiden musste – und er hat das ja wieder mit überwältigender Mehrheit hingekriegt – war weder von einer realistischen Lageeinschätzung noch von einer nüchternen Kriegszieldefinition die Rede. Statt dessen wurden die zweifelhaften Erfolge beim Bau von Schulen, bei der Stabilisierung der Sicherheitslage und bei der Bekämpfung der Terrororganisation Al Kaida aufgezählt. Die Reden der Abgeordneten der Regierungskoalition waren gespickt mit Vokabeln wie Friedensmission, Mandat, Einsatz, Wiederaufbau und ähnlichen, was den Hamburger Abgeordneter der Linksfraktion, Jan van Aken, zu der Bemerkung veranlasste: „Sie reden hier so, als ob das Ganze eine Feuerwehrübung in Castrop-Rauxel wäre.“

Barack Obama hat am 1. Dezember nicht als Feuerwehrhauptmann, sondern als Oberbefehlshaber der US-Armee seinen Plan zur Fortsetzung des Afghanistankrieges bekannt gegeben.

Der militärische Gehalt der Rede Obamas war erwartet worden: Die USA werden im nächsten halben Jahr ihre Truppen um weitere 30.000 Soldaten erhöhen. Nach der bereits erfolgten Truppenerhöhung im Frühjahr d.J. um 21.000 bedeutet dies, dass in der kurzen Amtszeit des neuen Präsidenten sich die militärische Präsenz in Afghanistan verdoppelt hat. Seltsame Handlungen für einen Politiker, der nächste Woche den Friedensnobelpreis in Empfang nehmen wird. Der Krieg am Hindukusch ist endgültig Obamas Krieg geworden.

Obama unterliegt einer gefährlichen Fehleinschätzung, wenn er sagt, der Krieg in Afghanistan sei mit Vietnam nicht zu vergleichen, weil dieses Mal erstens 43 Nationen als Verbündete der USA beteiligt seien und weil zweitens kein breiter, in der Bevölkerung verankerter Widerstand vorhanden sei. Obama übersieht einmal, dass es unter den "Verbündeten" erste Absetzbewegungen gibt (Japan, Kanada, Niederlande haben den Rückzug ihrer Truppen bereits beschlossen – und das ist gut so.). Zum anderen verkennt er die Tatsache, dass sich der vielgestaltige Widerstand gegen die ausländische Besatzung nicht nur auf Taliban- oder Al-Kaida-Kämpfer stützt, sondern sich aus einer immer größeren Unzufriedenheit der Bevölkerung aller Landesteile speist. Nach UN-Angaben gibt es über 2.000 bewaffnete Widerstandsorganisationen. 80 Prozent des Landes sind - wieder - unter der Kontrolle der Taliban – vor zwei Jahren waren es nur 50 Prozent.

Obama macht sich - und der US-Bevölkerung - auch etwas vor, wenn er die Truppenverstärkung mit der Ankündigung verknüpft, die Kräfte ab 2011 wieder zu reduzieren. Wer glaubt, mit einer vorübergehenden Verschärfung des Krieges den Widerstand brechen zu können, hat die afghanische Wirklichkeit nicht erfasst. Denn bis dahin sind die afghanischen Verbände weder in der gewünschten Zahl (von 400.000 Polizei- und Armeekräften ist die Rede) noch in der erforderlichen Loyalität zur Zentralregierung aufgebaut. Das bedeutet, dass auch noch über diesen Zeitpunkt hinaus die Besatzer ihre Truppen erhöhen werden. Das Werben Obamas unter NATO-Partner war denn auch schon in Teilen erfolgreich. Die Außenministerkonferenz der NATO gestern hat sich in einem eigenen Statement zu Afghanistan voll hinter den ISAF-Oberkommandierenden McChrystal und hinter Präsident Obama gestellt und die Ankündigungen einiger Länder, ihre Truppen ebenfalls aufzustocken, ausdrücklich begrüßt.

Die Perspektive bleibt dennoch düster – auch aus Sicht der NATO. Unerklärlicherweise hat sie – 60 Jahre nach ihrer Gründung - ihr Schicksal an einen Erfolg in Afghanistan geknüpft. Als NATO-Kritiker könnte man da genüsslich die Hände in den Schoß legen und abwarten, bis die letzten NATO-Truppen Afghanistan verlassen haben und das größte Militärbündnis in der Geschichte der Menschheit sich in Luft auflöst. Wir wissen, das wird nicht passieren. Das ist ja auch nicht passiert, als vor 20 Jahren die Blockkonfrontation aufhörte und die NATO noch überflüssiger wurde, als sie es zuvor eh schon war.

Der altgediente Präsidentenberater Zbigniew K. Brzezinski hat vor zwei Monaten in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ einen Artikel veröffentlicht ("An Agenda for NATO"), worin er der NATO nicht nur einen Sieg in Afghanistan wünscht – andernfalls verlöre das Bündnis seine „Glaubwürdigkeit“ -, sondern zugleich die zukünftige Rolle der NATO in der Welt umreißt. Die sieht er als euro-atlantisches Bündnis, das sich auf die militärische Stärke der USA und das ökonomische Gewicht Europas stützen könne und global handelt. Dabei dürfe sich die NATO selbst aber nicht globalisieren – dies würde nämlich nur Misstrauen und Widerspruch bei den aufstrebenden Mächten Asiens und bei Russland hervorrufen. Vielmehr müsse die NATO den Mittelpunkt eines weit gespannten Netzes mit der NATO verbundener regionaler Sicherheitssysteme bilden. Um militärisch handlungsfähig zu bleiben und auf künftige Bedrohungen in aller Welt besser reagieren zu können, schlägt Brzezinski zudem die Änderung des Artikels 5 des NATO-Vertrags vor. Dort ist festgehalten, dass im Falle eines Angriffs auf ein Mitglied der NATO jeder Mitgliedstaat selbst über die Maßnahmen entscheidet, die es zur Verteidigung ergreifen möchte. Auch müssen kollektive Maßnahmen bisher von allen Mitgliedern im Konsens beschlossen werden. Wie kann es sein, fragt Brzezinski, dass ein einziges Mitglied mit seinem faktischen Vetorecht eine gemeinsame Reaktion des Bündnisses behindern kann und plädiert für eine „operationalisierbarere Definition von Konsens“.

Hier, aber auch in anderen bereits vorliegenden Papieren aus NATO-Kreisen zur Formulierung einer neuen NATO-Strategie, werden Weichen gestellt für eine atlantisch basierte, global agierende schlagkräftigere Militärallianz.

Die NATO-Proteste im Frühjahr d.J. in Straßburg und Kehl wären umsonst gewesen, wenn wir als Friedenswissenschaftler und als Friedensbewegung nicht nachlegen würden. Eine vor kurzem veröffentlichte Umfrage des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center ergab z.B. in Deutschland eine Zustimmungsquote zur NATO von sage und schreibe 73 Prozent. Höher war die Zustimmung nur in Polen (75 %), was nicht weiter überrascht. Für uns bedeutet das, dass wir mit der Aufklärung über die unheilvolle Rolle der NATO ganz am Anfang stehen. Der Krieg in Afghanistan wird abgelehnt, die NATO gutgeheißen. Das heißt, es wird weitgehend ausgeblendet, dass die NATO dort Krieg führt. Zur Alphabetisierung der Bevölkerung in Sachen NATO, zur „NATObetisierung“ der Bevölkerung wird künftig m.E. also gehören, diesen Zusammenhang zu betonen. Auch um Argumenten entgegenzutreten, die Friedensbewegung leiste mit ihrer Forderung nach einem Abzug der Bundeswehr einer deutschen Sonderrolle Vorschub, sollten wir präziser formulieren: „NATO raus aus Afghanistan!“

Der Bundesausschuss Friedensratschlag hat klare Worte zum Osloer Nobelpreiskomitee gefunden, als dieses Barack Obama den Friedensnobelpreis 2009 zugesprochen hat. Dafür gab es mitunter Kritik von einigen wenigen anderen Friedensorganisationen. Ich will diesen Disput hier nicht wiederholen – es scheint mir angesichts der zweifelhaften Leistungen Obamas in Bezug auf Afghanistan, Iran oder den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht nötig zu sein.

Nachtragen möchte ich aber gern noch, dass es hervorragende Alternativen zu Obama gegeben hätte.

Ich nenne z.B. Malalai Joya, diese unerschrockene Kriegsgegnerin und Kämpferin für Menschen- und Frauenrechte in Afghanistan (das ist ein anderes Kaliber als die bellizistischen afghanischen Vorzeigedamen, die uns im Vorfeld der Bundestagsdebatte die grüne Abgeordnete Marie-Luise Beck medienwirksam präsentiert hat!).

Ich nenne Uri Avnery, der sich wie kein anderer in Israel für die Rechte der Palästinenser auf ein menschenwürdiges Leben in einem eigenen Staat einsetzt – und der schon mehrmals eine Einladung zu unserem Friedensratschlag schweren Herzens ausschlagen musste, weil er, wie er schrieb, so dringend in Israel gebraucht wurde.

Und ich möchte drittens einen Mann nennen, dessen globalisierungs- und kapitalismuskritischer Verstand eine so beherzte Verbindung eingegangen ist mit einer unvergleichlichen Sprachgewalt, die den Zorn über die Verhältnisse und die Empathie für die Hungernden und Entrechteten dieser Welt zum Ausdruck bringt. Die Rede ist von dem ehemaligen UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und jetzigem Mitglied des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats, Jean Ziegler.

Wäre es nicht Zeit für die internationale Friedensbewegung, sich mit solchen Vorschlägen beim Nobelpreiskomitee Gehör zu verschaffen?

Ich freue mich, dass ihr alle zu unserem 16. Friedensratschlag nach Kassel gekommen seid. Es ist der letzte Friedensratschlag – dieser Art. Weitere werden hoffentlich folgen – solange das Interesse daran besteht. Doch darüber an anderer Stelle mehr.

Jetzt begrüße ich sehr herzlich die Referentinnen und Referenten unseres Kongresses und die vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus nah und fern. Ich wünsche Ihnen und euch allen einen angenehmen Aufenthalt in Kassel und uns allen anregende Diskussionen.

Der 16. Friedensratschlag ist eröffnet.


Zurück zur Seite "Friedensratschlag 2009"

Alles über den "Friedensratschlag"

Zur Seite "Friedensbewegung"

Zur Seite "Friedenswissenschaft"

Zur Seite "AG Friedensforschung"

Zur Afghanistan-Seite

Zur Seite "Friedenspreise"

Zurück zur Homepage