Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Friedenspolitischer Ratschlag: Anker und Kompass der Friedensbewegung in einer zunehmend sich militarisierenden Welt

Von Lühr Henken und Peter Strutynski*

Damit konnte nun wirklich niemand rechnen: Über 350 Teilnehmer/innen aus ganz Deutschland sowie aus sechs weiteren europäischen Ländern trafen sich Anfang Dezember letzten Jahres beim 11. "Friedenspolitischen Ratschlag" in der Universität Kassel. Eingeladen hatte die an der Uni beheimatete Arbeitsgruppe Friedensforschung, ein "Think Tank der Friedensbewegung", wie die linke Tageszeitung "junge Welt" ohne jeden ironischen Unterton bemerkte. Nach dem merklichen Rückgang der öffentlichen Resonanz auf die Aktivitäten der Friedensbewegung und die Angebote von Seiten friedenspolitisch engagierter Wissenschaftler/innen im abgelaufenen Jahr war verschiedentlich befürchtet worden, dass auch diese Konferenz dem gesunkenen (Medien-)Interesse am Friedensthema ihren Tribut zollen würde. Das Gegenteil war der Fall: In Kassel zeigte sich, dass ein gutes und vielfältiges thematisches Angebot, das Engagement zahlreicher wissenschaftlich ausgewiesener und interessanter Referentinnen und Referenten und die Diskussionsfreude von Friedensaktivist/innen aus allen Ecken der Republik jenes zugleich angenehme, spannungsvolle und solidarische Konferenzklima schaffen konnten, das die "Ratschläge" von Anfang an auszeichneten.

Plenarvorträge

Die Plenarvorträge und 25 Arbeitsgruppen und Workshops befassten sich mit Fragen des europäischen Integrationsprozesses, dem Nahostkonflikt einschließlich der Lage im Irak sowie mit den gegenwärtigen und künftigen Konfliktkonstellationen in der Weltpolitik.In zahlreichen Beiträgen wurde Kritik an der militärisch gestützten Hegemonialpolitik der USA, die nach der Wiederwahl des US-Präsidenten Bush womöglich noch an Fahrt gewinnen werde. Der Marburger Politologe Frank Deppe sprach in dem Zusammenhang von einem "neuen Imperialismus", der sich von seinem klassischen Vorgänger, dem Imperialismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts dadurch unterscheide, dass es den imperialen Mächten (wozu Deppe auch die Europäische Union zählt) heute nicht mehr darum ginge, Kolonien zu erwerben oder fremde Länder zu unterwerfen, sondern mittels der Ausbreitung des Neoliberalismus möglichst alle potenziell profitablen Bereiche der Daseinsvorsorge privatkapitalistischer Kontrolle zu unterwerfen. Elmar Altvater, emeritierter Professor für Politische Ökonomie am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, nannte Beispiele dafür, wie die Liberalisierung des Weltmarktes und die "Vermarktwirtschaftlichung" der öffentlichen Dienstleistungen menschliche Sicherheit - verstanden als wirtschaftliches, soziales, kulturelles und emotionales Wohlergehen des Einzelnen in der Gesellschaft - zunehmend gefährde oder verunmögliche.

Horst Schmitthenner, bei der IG Metall zuständig für die Pflege des Kontakts mit außergewerkschaftlichen sozialen Bewegungen, ergänzte diese theoretische Sichtweise durch zahlreiche Beispiele aus dem betrieblichen Alltag, der Unternehmeroffensive gegen Arbeitnehmerrechte und der staatlichen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, wofür Hartz IV nur ein besonders markantes Beispiel sei (im Programm ausgedrucktes Thema seines Referats: "Mit Hartz und Hand für's Vaterland?"). Viel Beifall gab es auch für die Berliner Jornalistin und Schriftstellerin Daniela Dahn, Trägerin des Ludwig-Börne-Preises 2004, als sie die Teilnahme der Bundesregierung am völkerrechtswidrigen Jugoslawien-Krieg 1999 anprangerte und an die damals bewusst in Kauf genommenen zivilen "Kollateralschäden" erinnerte. Bis heute würden Angehörige von Opfern der NATO-Luftangriffe vergeblich um einen Entschädigung klagen.

Stehende Ovationen erhielt der Gastredner des Kongresses am Sonntagmorgen, Peter Gingold. Der 86-Jährige sprach anlässlich des am 8. Mai 2005 anstehenden 60. Jahrestags der Befreiung von Faschismus und Krieg . Der ehemalige Widerstandskämpfer Gingold, der sich als junger Mann der französischen Résistance anschloss und gegen die Nazi-Wehrmacht kämpfte, erinnerte an den Traum der 1945 von sowjetischen und US-amerikanischen Soldaten aus den KZs befreiten Häftlingen, nach diesem schrecklichsten aller Kriege könne nun ein "ewiger Frieden" in einer Welt ohne Rüstung und Gewalt errichtet werden. Leider habe die Geschichte eine andere Entwicklung genommen und Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Islamophobie bedrohten wieder das Zusammenleben der Menschen, Aufrüstung und Präventikriege bedrohten zunehmend die internationalen Beziehungen.

Die Diskussion im Plenum - über die zahlreichen parallel durchgeführten Arbeitsgruppen kann hier nicht berichtet werden - konzentrierte sich auf die Frage, inwieweit die Europäische Union schon eine Militärmacht ist oder noch auf den "Pfad der friedenspolitischen Tugend" gebracht bzw. gezwungen werden könne. In seinem Eröffnungsbeitrag sah Peter Strutynski von der AG Friedensforschung und Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag in Gestalt der EU-Verfassung und der bereits verabschiedeten Europäischen Sicherheitsstrategie (sog. Solana-Papier) drei große Gefahren auf die EU zukommen: 1) Krieg als Mittel der Politik werde weiter enttabuisiert, ja als ggf. unausweichliches Mittel zur Interessenwahrung des neu-formierten EU-Staatengefüges legitimiert. 2) Weitere Aufrüstung bzw. Rüstungsmodernisierung erhalten - nach Artikel 41 EU-Verfassung - für alle EU- Mitgliedstaaten Verfassungsrang. 3) Die Versuchung, regionale oder lokale Krisen eigenmächtig militärinterventionistisch zu lösen, werde zunehmen und damit weltweit neue Rüstungsdynamiken provozieren. Strutynski plädierte daher ganz entschieden für eine breite gesellschaftliche Diskussion ("die meisten Menschen wissen gar nicht, was da drin steht") und die Abhaltung eines Referendums über die EU-Verfassung. Gerade wem die europäische Integration am Herzen liege, müsse Nein zu dieser Verfassung sagen.

Podiumsdiskussion: Nein zur EU-Verfassung

Um dieses "Nein" zur EU-Verfassung ging es auch im abschließenden Podiumsgespräch am Sonntagmittag. In dem von Anne Rieger, Mitglied im SprecherInnenrat des Bundesausschusses Friedensratschlag, moderierten Abschlussplenum (immer noch vor vollem Saal!) waren die vier PodiumsteilnehmerInnen 60 Jahre nach der Befreiung Europas vom Faschismus aufgerufen, Statements zur EU "vor der Entscheidung zwischen Zivil- und Militärmacht" abzugeben.

Die Psychotherapeutin Dr. Angelika Claußen, stellvertretende Vorsitzende der IPPNW Deutschland, empfahl den Friedens- und sozialen Bewegungen eine bewährte Methode der Psychotherapie, dass man zur Überwindung der eigenen Ohnmacht sich zunächst das Zustandekommen der eigenen Erfolge vergegenwärtigen solle. Sie fragte, wie die großen Demonstrationen am 15. Februar 2003 zustande gekommen seien: durch ein europäisch übergreifendes Denken einen regionalen Zusammenhalt hergestellt zu haben, "da wo wir wohnen". Die Stärke habe darin bestanden, verschiedene Aktionsformen nebeneinander stehen gelassen zu haben. Die Bewegung habe sich als "anschluss- und einschlussfähig" erwiesen. Darum solle sie sich bei Freunden und Nachbarn weiter bemühen. Claußen fügte eine weitere Vision an, die Deklaration der Menschenrechte mit dem Recht auf Überleben und dem Recht auf Frieden in nationale Verfassungen und internationales Recht aufzunehmen.

Stephan Lindner von der AG EU bei attac forderte einen Paradigmenwechsel zur neoliberalen Standortpolitik. Dabei solle die Solidarität mit den Schwächsten der Gesellschaft im Mittelpunkt stehen. Lindner entwarf den Begriff des "real existierenden Neoliberalismus", der stark vom idealen Neoliberalismus abweiche. Der real existierende Neoliberalismus fördere Sozialabbau und Militarisierung als zwei Seiten einer Medaille. Dabei sei auf der europäischen Ebene ein Militärisch-Industrieller Komplex im Wachsen und Entscheidungen verlagerten sich zunehmend von der nationalen auf die europäische Ebene, so dass Lindner der Friedensbewegung riet, ihren Fokus mehr auf die Demokratisierung der europäischen Institutionen zu legen.

Der Politikwissenschaftler und Friedensaktivist Tobias Pflüger, seit Juni 2004 als Parteiloser auf der PDS-Liste ins Europaparlament gewählt, warnte eindringlich vor dem deutsch-französischen Bestreben, die EU zu einer zweiten Weltmacht auszubauen. Vor dem Hintergrund der deutschen militaristischen Geschichte sei es eine ganz besondere Verpflichtung von uns Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg die Maxime "Nie wieder Krieg" zu befolgen. Stattdessen identifizierte Pflüger Deutschland und Frankreich als Motoren der Militarisierung und der neoliberalen Politik der EU. Die militärischen Vorbereitungen zur Bildung einer zweiten Weltmacht EU seien in vollem Gange: ein 60.000-Mann-Heer werde aufgestellt; in Bosnien trete die EU die Nachfolge der NATO als Führungsmacht in der Operation "Altea" an; eine EU-Sicherheitsstrategie sehe die erste Verteidigungslinie künftig zunächst im Ausland; in einem neuen "European Defence Paper", dem Vorläufer eines EU-Weißbuchs, würde der Einsatz britischer und französischer Atomwaffen nicht ausgeschlossen; "Battle Groups" - zu deutsch Schlachtgruppen - würden aufgestellt und mit dem angestrebten EU-Beitritt der Türkei verschaffe sich die EU Zugriff auf das türkische Militär in einer Region, in der Wasser und Öl von geopolitischer Bedeutung seien. Pflüger wies auf die Münchner Sicherheitskonferenz hin, an der sich "Kriegsherren treffen, um die nächsten Kriege zu planen" und forderte die Friedensbewegung hier ebenso kreativ und massiv zu Aktionen auf wie am 8. Mai, wenn sich der Bundestag anschickt, die EU-Verfassung zu ratifizieren.

Der Wiener Politikwissenschaftler Dr. Thomas Roithner von der ÖSFK prangerte an, dass Österreich seit dem Beitritt zur EU kontinuierlich die in der Landesverfassung festgelegte "immerwährende Neutralität" massiv abbaue. Der Neutralitätsstatus Österreichs beinhalte die Absage an einer Kriegsteilnahme, keine Mitgliedschaft in einem Militärpakt und keine Truppenstationierung in Österreich. Die Aushöhlung dessen schreite stetig voran: Österreich beteilige sich an einer robusten "Battle Group" der EU und der noch zu ratifizierende EU-Verfassungsvertrag sehe nicht nur eine robuste Militarisierung vor, sondern zudem eine Beistandsverpflichtung aller EU-Mitglieder, was die EU zu einem Militärpakt mache. Damit sei die "immerwährende Neutralität" Österreichs gebrochen. Roithner plädierte an uns Deutsche, die Debatte zur EU-Verfassung nicht nur in Österreich, sondern auch in den anderen Nicht-NATO-Staaten der EU Schweden und Finnland mehr zu beachten.

In sich anschließenden drei Kurzstatements weiterer ausländischer Gäste des Ratschlags machte zunächst der Belgier Ludo de Brabander darauf aufmerksam, dass sein Land das NATO-Hauptquartier aber auch die Zentralen der EU-Militarisierung beherberge und dass auch in Belgien Kampagnen gegen die EU-Verfassung gestartet wurden. Unabhängig von einer Verfassung seien bereits die EU-Rüstungsagentur und die Aufstellung von "Battle Groups" beschlossene Sache, die ihre Arbeit demnächst aufnehmen würden.

Internationale Vernetzung

In einer kämpferischen Botschaft forderte der Grieche Irakis Tsavdaridis ein klares Nein der Friedensbewegung zur EU-Verfassung, weil dies zugleich ein klares Nein zu einer EU-Armee sei. Die Verfassung schreibe imperialistische Interventionen fest und ließe Volksbegehren nicht zu. Sie sei ein Fundament der EU, um den "Hunger des Großkapitals zu befriedigen."

Der Franzose Alain Rouy vom Mouvement de la Paix betonte, dass es wichtig sei, die Zusammenarbeit zwischen deutscher und französischer Friedenbewegung zu intensivieren, da beide Staaten eine Vorreiterrolle bei der Militarisierung der EU einnähmen. Er forderte, dass als erstes Ziel die Friedenpolitik in der Verfassung an den Anfang gestellt werden müsse. Rouy kritisierte, dass im französischen Staatshaushalt als einziger Titel der für Verteidigung nicht gekürzt werde, stattdessen insbesondere die Atombewaffnung ausgebaut würde. Die französische Friedenbewegung konzentriere sich auf die Atombewaffnung und führe im Rahmen der Kampagne "Abolition 2000" eine Dauerwache an den Stellen in Frankreich durch, wo Atomwaffen sind: in der Bretagne (U-Boote) und in Istre (Flugzeuge). Bemerkenswert sei, dass die Polizei dort nicht räume, sondern mit den Demonstranten diskutiere. Er plädierte dafür, gemeinsam die Idee eines friedlichen Europas voranzutreiben.

Abschließend griff Anne Rieger einen Gedanken von Peter Gingold auf, der am Morgen enttäuscht daran erinnerte, dass nach dem 8. Mai 1945 die Bevölkerung keine Wut auf die deutschen Kriegstreiber gezeigt hätte. Sie hoffe, dass uns im vor uns liegenden Jahr Wut, Zorn und Erbitterung die Triebkraft für eine vielfältige und multipolare Kampagne geben werden, um die Ratifikation der EU-Verfassung zu verhindern: "Wir sagen Ja zu Europa, aber Nein zu dieser Verfassung"

Der "Friedenspolitische Ratschlag" wird seit 1994 jedes Jahr am ersten Dezemberwochenende in Kassel veranstaltet und zeichnet sich vor allem auch dadurch aus, dass er keine rein akademische Veranstaltung ist, sondern vor allem von der Friedensbewegung als Informations- und Expertise-Börse wahrgenommen wird. Die Ratschläge leisten aus Sicht der Veranstalter zweierlei: Sie sind einmal intellektueller Anker und Ruhepol zum geistigen "Auftanken", und sie tragen zweitens dazu bei, der Friedensbewegung begründete Orientierungen inmitten eines Meers von Unsicherheiten und Anfeindungen zu geben. Diese einzigartige Begegnung aus Wissenschaft, Politik und Friedensbewegung macht die Attraktivität der "Ratschläge" aus und erklärt auch den großen Zulauf auch in Zeiten, in denen sich die Friedensbewegung in einer "konjunkturellen Flaute" befindet. Möglicherweise wird sich das mit der Flaute zumindest vorübergehend ändern, wenn im Februar US-Präsident George W. Bush seine Freunde, die GIs in den Militärstützpunkten in Deutschland, und seine politischen Freunde aus der Bundesregierung in Mainz besuchen wird. Es sind doch auch immer wieder solche Anlässe, die sich zum begründeten massenhaften Protest gegen die imperiale Politik von USA, EU und Bundesregierung besonders gut eignen.

* Lühr Henken, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag und dese Hamburger Forums für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit;
* Peter Strutynski, Mitglied der AG Friedensforschung an der Uni Kassel, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag und des Kasseler Friedensforums



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