Vorausdenken für die Stunde X
Friedensratschlag in Kassel: Deutschland als Kollateralgewinnler. Von Marina Achenbach
Im Folgenden dokumentieren wir den Artikel, den die Journalistin Marina Achenbach über den 8. Friedensratschlag schrieb. Der Beitrag erschien in der Wochenzeitung "Freitag".
Es ist keine 20 Jahre her, da beeinflusste die Friedensbewegung erkennbar
die öffentliche Meinung. In der Regierung saß sie zwar nicht, aber ihre
Forderungen kannten alle. Man fing an darüber zu sprechen, dass die
Menschheit selbst die Mittel zur ihrer Auslöschung hervorgebracht habe.
Noch dazu wurde bewusst, dass die Selbstvernichtung auch durch einen
puren Irrtum in Gang gesetzt werden konnte: jemand drückt den falschen
Knopf. Nicht zufällig war Stanley Kubricks Film Dr. Seltsam oder wie ich
die Bombe lieben lernte ein Welterfolg. Zugleich wurde die Kompetenz der
"Männer an den Schalthebeln" - ob in West oder Ost - angezweifelt.
Ob dieses Wissen noch so deutlich vorhanden ist? Ich vermute, nein.
Wieder fügt man sich in die große Unübersichtlichkeit der Verhältnisse.
Nicht einmal die CIA scheint ihren Nimbus verloren zu haben, trotz ihres
Versagens angesichts der terroristischen Anschläge. Zwar konnten immer
noch Mehrheiten in allen Ländern nicht davon überzeugt werden, dass mit
Krieg weitere Anschläge zu verhindern seien. Doch sie ducken sich und
überlassen den Regierungen weitgehend die Handlungsräume.
Nur in Kassel... - Nein, das wäre ein falscher Anfang. In vielen Städten
sammeln sich schließlich Kriegsgegner, um die Bombardierung
Afghanistans zurückzuweisen. Da sind mehr Energie und Phantasie im
Spiel als öffentlich wahrgenommen wird, aber es protestieren eben keine
Massen. Und doch hätten die Grünen und auch die SPD weniger Probleme
mit ihrem Ja zum "Bündnisfall" gehabt, wenn sie nicht von der
Friedensbewegung bearbeitet worden wären und deren Erneuerung für
möglich hielten. Davon ist man in Kassel überzeugt, wo sich die Aktiven
zum 8. Friedensratschlag treffen, der alljährlich im Dezember stattfindet.
Es kommen etwa 300 Leute aus allen Bundesländern, einige auch aus der
Schweiz und aus Österreich.
Die vielen Vorträge und Debatten zeichnen das Bild einer ungeheuren,
weltweiten Militarisierung und Machtverschiebung. Sie verläuft parallel zur
ökonomischen Globalisierung wie zum Abbau demokratischer Rechte. Und
das geschieht in solcher Geschwindigkeit, dass es kaum realisiert werden
kann. Deutschland will die Gunst der Stunde nutzen, um zu einem Global
Player aufzurücken. Und Europa wird von Militärstrategen gestaltet. Am
Ziel eines vereinigten Europa arbeiten zur Zeit nur jene Kräfte, die den alten
Kontinent als Militär- und Wirtschaftsmacht neben den USA installieren
wollen. Eine andere Idee gibt es nicht, ob Berlusconi oder Blair oder
Schröder den Ton angeben.
Ist für die in Kassel Versammelten der 11. September 2001 eine Zäsur?
Sie argumentieren nicht als radikale Pazifisten - sie analysieren:
Militärische Zwangsmaßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens sind auch
nach der UN-Charta, Kapitel VII, sehr wohl zulässig. Das akzeptieren sie
wie das Recht zur Selbstverteidigung. Nicht zugelassen aber seien
"veritable Kriegsmaßnahmen", so der Hamburger Völkerrechtler Norman
Paech: Bombenteppiche, Streubomben, das Auslösen von
Flüchtlingsströmen. Für die Anwesenden ist seit dem 11. September eher
das sichtbar geworden, was längst zu ihrem Wissen gehört. Paech
definiert das Geschehen in Afghanistan als "dritten Krieg zur Etablierung
einer Weltmacht" - Golfkrieg, Balkankrieg, nun Zentralasien.
Was als Terrorismus zu gelten hat, wird von den Staaten im Dunkeln
gelassen. Gerade die USA weigern sich, für den individuellen, den
mafiotischen, religiösen oder staatlichen Terrorismus genaue Definitionen
festzulegen, wie sie auch Internationale Gerichte verhindern, vor denen sie
selbst erscheinen müssten.
Ist es etwa denkbar, dass die omnipotente NATO sang- und klanglos
zerfällt? Peter Strutynski von der Universität Kassel, einer der Gastgeber
des Friedensratschlags, stellt es eher nebenbei fest: Die NATO sei im
Afghanistankrieg kaum noch gefragt. Die USA würden über Koalitionen
allein entscheiden. Eine Allianz, die mitreden will, kann da schon stören.
Sie ist zu groß, zu umständlich für die regionalen Kriege, die offenbar als
künftige Dauererscheinung eingeplant werden. Die großen Anstrengungen,
die gemacht wurden, um der NATO nach dem Verschwinden des östlichen
Gegenpaktes wieder eine Legitimation zu verschaffen, münden heute in
den Kampf um die grundsätzliche Akzeptanz militärischer Lösungen.
Und tatsächlich, das ist fast gelungen, militärische Lösungen zählen
wieder unter die politischen Mittel. Das müssen die Aktiven der
Friedensbewegung einräumen. Sie sind mit ihrem ungeheuren Wissen über
Strategien, Waffensysteme und die Genese von Konflikten, auch mit ihren
internationalen Kontakten auf einen harten Kern geschrumpft. Wenn sich
die bärtigen Typen und die Frauen mit langen ergrauten Locken, die
Einstein- und Lotte-Lenya-Typen, diese farbige, so individuell älter
gewordene Gemeinschaft von Individualisten - wenn sich dieser hier
versammelte Sachverstand mit neuen vitalen Bewegungen wie den
Globalisierungskritikern von Attac verbindet, dürfte eine interessante
Mischung entstehen.
Die Innenpolitik steht im Zentrum. Schröders dramatische Vertrauensfrage
verhinderte ja, dass der Inhalt des Bundestags-Beschlusses zum
"Bündnisfall" im Detail studiert wurde. Tobias Pflüger analysiert den
"Kriegsbeschluss" als Ermächtigung zum militärischen Eingreifen auf
einem Drittel des Globus. Die bleibt "vorerst" für ein ganzes Jahr gültig.
Dass in diesem Beschluss eine Ausweitung militärischer Einsätze über
Afghanistan hinaus von der "Einwilligung der jeweiligen Regierung"
abhängig gemacht wird, ist nur eine schwache Bremse. Somalia, eines der
Länder im US-Visier, hat offiziell gar keine zentrale Regierung.
Die Friedensbewegung will über diese Vorgänge - auch über die
gesellschaftlichen Kosten - aufklären. Die Anwesenden formulieren, sie
wollten "die richtigen" Leute und Gruppen für die Zusammenarbeit finden.
Man will sich von Illusionen verabschieden und sich noch klarer als
Opposition verorten. Es geht darum, die Grundstimmung in der
Gesellschaft zu beeinflussen. Peter Wahl als Vertreter der NGO WEED
meint, alle großen Umbrüche würden ihre sozialen Akteure und
Bewegungen hervorbringen, so wie die Globalisierung ihre Kritiker in Attac
vereint. Neue Attac-Gruppen mit jungen Mitgliedern entstehen in
verblüffender Zahl.
Die palästinensische Professorin Sumaya Farhat-Naser hält eine Rede, die
sehr beeindruckt. Weil auch sie den Abschied von Illusionen verlangt. Zehn
Jahre lang hat sie in Ost-Jerusalem ein Frauenzentrum für israelische und
palästinensische Frauen geleitet. Vor sieben Monaten hat sie das
abgebrochen. Denn jetzt werde sie in Palästina gefragt: Hat eure Arbeit
dazu geführt, dass Scharon an die Macht gekommen ist? Dass der
Landraub weiterging, dass die Besatzung schlimmer ist als je? Die
Palästinenser glauben nicht mehr an Solidaritätserklärungen, sie wollen
politische Taten sehen, sagte sie. Sumaya hat seit einem Jahr an 78
Beerdigungen teilgenommen, acht davon betrafen Freunde ihres Sohnes.
Jetzt sei es so, dass jeder, der mit Israelis zusammenarbeite, als
"Verräter" gelte, sagt sie. "Und diese rote Linie muss ich respektieren.
Denn ohne die Stütze meines Volkes kann ich nicht arbeiten. Zugleich
weiß ich, es ist eine schreckliche Sache. Niemand darf das zerstören, was
in mir gewachsen ist an reicher Erfahrung durch die Zusammenarbeit mit
meinen israelischen Freundinnen und Freunden." Sie hat sich an die
Universität zurückgezogen und schreibt über ihre Erfahrung ein Buch,
"damit es als Vorlage für die Stunde X, den Beginn eines
palästinensischen Staates, da ist - damit wir von diesem Punkt aus weiter
gehen."
Aus: Freitag, Nr. 50, 7. Dezember 2001
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