Friedensbewegung entsetzt über neuerliche Gewaltwelle in der Türkei
Alle deutschen Rüstungsexporte in die Türkei sofort stoppen
Presseerklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag
Mit Entsetzen reagierte die Friedensbewegung auf die
militär-polizeilichen Aktionen gegen Häftlinge in türkischen
Gefängnissen, in deren Verlauf 17 Häftlinge und zwei
Polizeibeamte ums
Leben kamen und Dutzende von Menschen zum Teil schwer verletzt
wurden.
Die Häftlinge befanden sich in einem seit zwei Monaten
andauernden
Hungerstreik, der sich gegen eine Verschärfung der
Haftbedingungen für
politische Häftlinge richtet. Das türkische Innenministerium
plant,
politische Gefangene - die im amtlichen Sprachgebrauch
durchgängig als
Linksextremisten" oder "Terroristen" bezeichnet werden -
künftig in
Einzelzellen (mit bis zu drei Häftlingen) unterzubringen statt
der heute
üblichen Schlafsäle mit jeweils rund 100 Häftlingen.
Befürchtet wird,
dass die Häftlinge damit der in türkischen Gefängnissen
grassierenden
Willkür noch ungeschützter ausgeliefert sind als bisher.
Gefängnisse sind ein rechtsfreier Raum
Gefängnisse gehören in der Türkei schon seit langem zu einem
bevorzugten
Aufmarschbereich für bewaffnete Einsatzkräfte. Sie sind ein
vollkommen
rechtsfreier Raum. Das Massaker des 19. Dezember steht nicht
allein. Am
5. Juli 2000 wurden bei einem Angriff auf das Burdur-Gefängnis
62
Gefangene verletzt. Am 26. September wurden im
Zentralgefängnis von
Ankara 10 Häftlinge getötet und 85 verletzt. Vier Jahre zuvor,
am 24.
September 1996, wurden im Gefängnis von Diyarbakir 10
Gefangene, die der
PKK angehörten, mit Eisenstangen zu Tode geprügelt; 23
Häftlinge wurden
schwer verletzt. In einem Bericht über die
Menschenrechtssituation kam
im September 2000 die türkische Menschenrechts-Vereinigung IHD
zum
Ergebnis, dass immer noch zahlreiche Fälle unaufgeklärter
politischer
Morde, außergerichtlicher "Hinrichtungen" und von
"Verschwindenlassen"
unliebsamer Personen an der Tagesordnung sind. In der ersten
Hälfte des
Jahres 2000 wurden 263 Fälle bekannt, in denen Häftlinge
gefoltert
wurden. Im Jahr zuvor hatte die Menschenrechts-Stiftung TIHV
686
Folteropfer gemeldet; 90 Prozent von ihnen waren aus
politischen Gründen
verhaftet worden.
Am 16. August 2000 unterzeichnete die türkische Regierung die
beiden
wichtigsten internationalen Menschenrechts-Konventionen: den
Pakt über
bürgerliche und politische Rechte sowie den Pakt über
wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte. Beide UN-Abkommen schützen in
besonderer
Weise ethnische und religiöse Minderheiten. Viele politische
Häftlinge
sitzen in türkischen Gefängnissen, weil sie sich für die
Interessen von
Minderheiten, insbesondere der größten kulturellen Minderheit
in der
Türkei, der Kurden, einsetzen. Anstatt die UN-Konventionen
umzusetzen
und eine Liberalisierung im Umgang mit der kurdischen
Opposition
einzuleiten, kehrt die Regierung in Ankara zu den brutalsten
Formen der
Unterdrückung zurück.
Der landesweit koordinierte bewaffnete Überfall auf die
politischen
Hungerstreikenden in 20 türkischen Gefängnissen zeigt einmal
mehr, dass
das Regime in Ankara keinen Frieden mit den Kurden sucht,
sondern weiter
auf deren Diskriminierung, Isolierung und Kriminalisierung
setzt. Dabei
wird auch die physische Vernichtung führender Vertreter der
kurdischen
Volksgruppe in Kauf genommen. Dazu dürfen wir nicht schweigen.
Dazu
müssen auch die Regierungen der Europäischen Union, die in
Nizza die
Türkei auf die Liste der Beitrittskandidaten gesetzt haben,
eindeutig
Stellung beziehen und sagen: Wer nach Europa will, muss
zumindest die
elementaren Menschenrechte einhalten und den inneren Krieg
gegen ein
ganzes Volk sofort beenden.
Bundesregierung muss alle Rüstungslieferungen stoppen und
Exportzusagen
widerrufen
Von der Bundesregierung fordern wir darüber hinaus einen
sofortigen
Stopp aller Waffenlieferungen an die Türkei. Es ist ein
Skandal, dass
die Türkei unter den Empfängerländern deutscher Rüstungsgüter
auf dem
ersten Platz rangiert. Eine Unterscheidung zwischen
Rüstungsgütern, die
direkt gegen Minderheiten eingesetzt werden, und
Rüstungsgütern, die
anderen militärischen Zwecken dienen, ist nicht sinnvoll. Jede
Waffenlieferung in die Türkei stärkt das militärische
Potential ihres
unmenschlichen Regimes und legitimiert indirekt auch die
Handlungsweise
ihrer Regierung. Berlin muss unverzüglich die Genehmigung des
Exports
einer Fertigungsanlage für Gewehrmunition widerrufen und
endgültig auf
die Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern verzichten.
Der Bundesausschuss Friedensratschlag wird seine vor einem
Jahr
begonnene Kampagne gegen die Rüstungsexporte in die Türkei
unvermindert
fortsetzen. Die lokalen und regionalen Friedensinitiativen im
Land sind
aufgerufen, mit Protesterklärungen, Briefen und anderen
Aktionen auf das
himmelschreiende Unrecht in der Türkei aufmerksam zu machen.
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Dr. Peter Strutynski (Sprecher)
Kassel, den 21. Dezember 2000
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