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US-Raketenabwehr und ABM-Vertrag

Presseerklärung der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit
Dortmund, den 16.02.2000

Die neue nationale Raketenabwehr der USA:
Sackgasse für die Abrüstung - Gefahr für die internationale Sicherheit´


Das von den USA betriebene Programm zur Entwicklung einer nationalen Raketenabwehr (National Missile Defense, NMD) bildet einen ernsten Stolperstein für die internationalen Abrüstungsbemühun-gen.

Der Aufbau einer begrenzten Abwehr gegenüber einer Raketenbedrohung seitens sogenannte "Schurkenstaaten", die heute noch gar nicht existiert, würde enorme Rüstungsanstrengungen nach sich ziehen. Ein Wettrüsten würde wertvolle Ressourcen verschleudern, zur Destabilisierung der internationalen Sicherheit führen und weitreichende nuklearer Abrüstung verbauen.

Der ABM-Vertrag, Garant für weitere tiefgreifende nukleare Abrüstung, würde entscheidend geschwächt und langfristig unterhöhlt. Die geplante Weltraumkomponente würde einer fortschreitenden Militarisierung des Weltraums Vorschub leisten. Das in diverse US-Raketenabwehrprogramme investierte Geld wäre weitaus effizienter in zivilen Forschungs- und Bildungsprogrammen aufgehoben. Die Effektivität des Systems ist von technischer Seite in Zweifel zu ziehen, da einfache Gegenmaßnah-men das NMD-System unterlaufen können. Kernwaffenstaaten wie Rußland, China oder Schwellenländer könnten ihre Nukleararsenale modernisieren, ausbauen oder eigene Raketenabwehr einführen.

Ein neues Wettrüsten, weltweit aber auch in einzelnen Regionen wie in Südasien wäre, vorprogrammiert. Anstatt das Problem durch tiefgreifende nukleare Abrüstung, Rüstungskontrolle und die Verhinderung von Weiterverbreitung zu lösen wird ein fragwürdiges Abwehrschild und damit eine Zone unterschiedlicher Sicherheit eingeführt.

Daher fordert die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative die Bundesregierung auf, sich gegenüber den USA und in der NATO den Plänen für eine Raketenabwehr entschieden zu widersetzen und sich gemeinsam mit der Mehrheit der Vereinten Nationen endlich für die erforderlichen Schritte für eine vollständige Abschaffung aller Kernwaffen einzusetzen.

Stellungnahme der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit

Langfassung:

Das von den USA betriebene Programm zur Entwicklung einer nationalen Raketenabwehr (National Missile Defense, NMD) bildet einen ernsten Stolperstein für die internationalen Abrüstungsbemühungen. Der 1983 formulierte Anspruch des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, mithilfe des SDI-Programms Atomwaffen "impotent und obsolet" zu machen, wurde zwar weitgehend aufgegeben. Doch auch eine begrenzte Abwehr gegenüber der vermeintlichen Raketenbedrohung durch sogenannte "Schurkenstaaten" und Terroristen oder versehentliche Raketenstarts hätte enorme Rüstungsanstrengungen zur Folge. Ein Wettrüsten würde wertvolle Ressourcen verschleudern und zur Destabilisierung der internationalen Sicherheit führen. Der Weg zu nuklearer Abrüstung würde durch Raketenabwehr verbaut.

Auch nach der von Bill Clinton 1993 vorgenommenen Umorientierung wurde das Abwehrprogramm ohne wesentliche finanzielle Abstriche weitergeführt, allen weltpolitischen Veränderungen zum Trotz. Anfang 1999 wurden sogar zusätzliche 7 Mrd. Dollar bereitgestellt. Die Mehrheit des US-Kongresses fordert für den Sommer 2000 eine Entscheidung über den Stationierungsbeginn der NMD, wenn dies technologisch möglich ist. Vorgesehen sind am Boden stationierte Raketen für die Abwehr in hohen und niedrigen Schichten der Atmosphäre, die durch Radar- und Infrarotsensoren am Boden und im Weltraum ergänzt werden. Zusätzlich zur nationalen Verteidigung ist auch eine taktische Abwehr gegen Kurzstreckenrak-ten (Tactical Missile Defense, TMD) im Aufbau, die weltweit in Krisenregionen zum Einsatz kommen soll, um die eigenen Truppen zu schützen. Als Grundlage dient u.a. eine Weiterentwicklung der Patriot-Rakete sowie die Neuentwicklung von Flächenverteidigungssystemen der Army und der Navy.

Das in diverse Raketenabwehrprogramme investierte Geld wäre weitaus effizienter in zivilen Forschungs- und Bildungsprogrammen aufgehoben. Trotz der mehr als 55 Milliarden Dollar, die seit 1983 in die Raketenabwehr geflossen sind, steht ihre technische Machbarkeit weiter in den Sternen, wie der kürzlich fehlgeschlagene Abwehrtest deutlich macht. Selbst unter experimentellen Versuchsbedingungen sind die USA bislang nicht in der Lage, eine einzelne anfliegende Interkontinentalrakete zuverlässig zu treffen. Das technische Versagen der Patriot-Rakete im Golfkrieg 1991 hatte deutlich gemacht, daß es den USA nicht einmal möglich war, die primitive Scud-Kurzstreckenrakete abzuwehren, die um ein Vielfaches langsamer fliegt als eine Interkontinentalrakete.

Die Machbarkeit der Raketenabwehr wird jedoch nicht allein durch die technischen Möglichkeiten und Grenzen des Verteidigers bestimmt, sondern auch durch die eines potentiellen Angreifers. Dabei stehen eine Vielzahl wirksamer Gegenmaßnahmen zur Verfügung, um die Abwehr zu unterlaufen, zu überwältigen oder zu bekämpfen. Hierzu gehört die Erhöhung der Raketen- und Sprengkopfzahlen, die Verwendung von Attrappen und Täuschkörpern oder der Einsatz anderer Transportmittel. Es dürfte kaum möglich sein, das Einschmuggeln einer Massenvernichtungswaffe in die USA zu verhindern.

Selbst wenn die USA in einem andauernden Wettrüsten aufgrund ihrer technologischen und ökonomischen Stärke die Oberhand behalten sollten, werden sie keine letzte Sicherheit haben, ob ihr Abwehrsystem im Ernstfall funktioniert. Raketenabwehr muß extrem komplexe Aufgaben in kürzester Zeit bewältigen und begünstigt in der Krise Alles-oder-Nichts Entscheidungen. Abwehrsysteme, gepaart mit Kernwaffen und Raketen, könnten von anderen Staaten als ernste Sicherheitsbedrohung interpretiert werden und erhöhte Anstrengungen zur Sicherung der eigenen Abschreckungsfähigkeit auslösen. Der Aufbau einer Abwehrkapazität wäre ein endloser Rüstungsprozeß, ein Schwarzes Loch für Finanzmittel. Aufgrund der Verknüpfung von Bedrohungswahrnehmung und Worst-Case-Denken, Wettrüsten und Kriseninstabilität würde Raketenabwehr wieder zu einem Unsicherheitsfaktor der internationalen Politik, lange bevor sie zuverlässig funktioniert.

Am deutlichsten wird dies am Beispiel der fortschreitenden Aushöhlung des ABM-Vertrags durch die fortschreitende Raketenabwehr-Entwicklung. Der 1972 zwischen USA und UdSSR vereinbarte Vertrag verbietet nicht nur die Stationierung, sondern bereits die Entwicklung und Erprobung einer nationalen Raketenabwehr gegen Interkontinentalraketen, mit Ausnahme eines Systems mit 100 Abfangflugkörpern an einem Ort. Mit der Preisgabe des ABM-Vertrages würden die Chancen für eine kontrollierte nukleare Abrüstung verspielt.

Auch die harschen Reaktionen Rußlands und Chinas, die zum Erhalt ihrer nuklearen Abschreckungsfähigkeit damit drohen, ihre Kernwaffen angesichts eines eines US-Abwehrsystem zu modernisieren, sind ernstzunehmen. Regelmäßig dienen die Abwehrpläne der USA im russischen Parlament als Vorwand, START-II nicht zu ratifizieren. Auf der anderen Seite sehen die Konservativen im US-Kongreß in der Raketenabwehr ein Mittel, die Rüstungskontrolle zu beenden und einer globalen US-Dominanz zum Durchbruch zu verhelfen, die auf die Vorherrschaft im Weltall ausgedehnt wird. Statt selbst zum Vorreiter umfassender Abrüstung zu werden, schaffen die USA weltweit ein Vorbild für das Aufleben militärisch bestimmter Sicherheitskonzepte. Die harte Linie Moskaus ist nicht nur ein Ergebnis russischer Innenpolitik, sondern auch einer fortgesetzten Degradierung und Brüskierung durch westliche Machtpolitik, von der NATO-Osterweiterung bis zum Kosovo-Krieg.

Bislang sind die Bedrohungsszenarien weit überzogen, denn außer den etablierten fünf Kernwaffenstaaten verfügt kein Land über ein Raketenpotential, das eine Bedrohung für die USA darstellt. Mit ihrer Politik schaffen die USA die "Schurkenstaaten" erst, die sie vorgeblich bekämpfen wollen. Warum sollten sich Nichtkernwaffenstaaten weiterhin an ihre Verpflichtungen aus dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) halten, wenn die Kernwaffenstaaten ein neues Wettrüsten beginnen anstatt die in Artikel 6 des NVV vereinbarte nukleare Abrüstung zu realisieren? Die Nichtratifizierung des Teststopp-Vertrages durch den US-Senat und der Stillstand bei den Genfer Abrüstungsgeprächen sind, wie auch die Atomtests in Südasien, Anzeichen dafür, daß der Ende der achtziger Jahre hoffnungsvoll begonne Abrüstungsprozeß zu scheitern droht.

Daher fordert die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative die Bundesregierung auf, sich gegenüber den USA und in der NATO den Plänen für eine Raketenabwehr entschieden zu widersetzen und sich gemeinsam mit der Mehrheit der Mitglieder der Vereinten Nationen endlich für die erforderlichen Schritte für eine vollständige Abschaffung aller Kernwaffen einzuset-zen.

Zwei Artikel zur gleichen Problematik aus russischer und US-amerikanischer Feder

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