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Krieg in Tschetschenien

Nach dem Einmarsch einer bewaffneten fundamentalistischen Bande unter Führung des einstigen Feldkommandeurs Bassajew aus Tschetschenien in die Nachbarrepublik Dagestan, angeblich um dort einen islamischen "Gottesstaat" zu errichten, schickte Moskau Bomber und Truppen, um die Eindringlinge zu vertreiben. Terroranschläge auf Wohnhäuser in Moskau und anderen russischen Städten lieferten der russischen Staatsführung einen - vermutlich willkommenen - Anlass eine große militärische Offensive gegen Tschetschenien zu starten.

Die zahlreichen Opfer unter der Zivilbevölkerung und die Flucht von über 200.000 Tschetschenen in die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan nahm Moskau mit denselben Begründungen in Kauf, wie sie die NATO bei ihrem Krieg gegen Jugoslawien gebrauchte. Überhaupt schien das Drehbuch für den russischen Feldzug nicht das russische Militär, sondern die NATO geschrieben zu haben: Das Abfackeln von Ölraffinerien, die Bombardierung wichtiger Infrastruktureinrichtungen und die Zerstörung von Wohnhäusern und ganzen Dörfern - all dies wurde bereits im Kosovo und im übrigen Jugoslawien praktiziert. Nach dem ersten Feldzug gegen Tschetschenien (1994 bis 1996), der 80.000 Menschen das Leben kostete und für Russland mit einer Niederlage endete, gehen Präsident Jelzin und sein Regierungschef Putin diesmal aufs Ganze. Vom Ausgang dieses Konflikts hängt nicht nur das innenpolitische Schicksal Jelzins und seines designierten Nachfolgers ab, sondern auch die außenpolitische Stellung Russlands im Kampf um den Kaukasus.

In dieser Region treffen die unterschiedlichsten Interessen hart aufeinander. Zwischen Kaukasus und Pamir brennen seit der Auflösung der UdSSR mehrere Lunten an bis oben gefüllten Pulverfässern. Gleichzeitig wollen die russischen Militärs Revanche nehmen für die Niederlage 1996. Tschetschenien wird als blutende Wunde an der Südflanke Russlands betrachtet, die nun gewaltsam geschlossen werden müsse. Schließlich geht es auch um Öl und damit um viel Geld. Das Öl aus Aserbeidschan zog längst die großen Konzerne magisch an. In Baku rollt nicht mehr der Rubel sondern der Dollar. Überall wo es nach Öl riecht, scheinen die USA schon zur Stelle zu sein. Das in Baku gebildete Edölkonsortium charakterisiert die neuen Machtverhältnisse: Die US-Konzerne Amoco (17 %), Pennzoil (10 %), Unocal (10 %) und Exxon (5 %) halten zusammen 42 Prozent der Anteile; 27 Prozent sind in britischer Hand (British Petroleum 17 %, Ramco 10 %); den Rest teilen sich Gesellschaften aus Aserbeidschan, Russland, Norwegen, der Türkei und aus Saudi-Arabien. Auch deutsche Firmen wie Deminex, Deutag, Mannesmann oder Preussag verfolgen Ölinteressen insbesondere in der benachbarten Republik Kasachstan, wo die USA bereits Milliarden von Dollars investiert haben. Deren Interessen geraten auch in Konflikt mit den Interessen der ehemaligen Sowjetrepubliken der Region, die vom Reichtum ihrer Bodenschätze natürlich selbst profitieren wollen.

Alle Konfliktbeteiligten nutzen ethnische Gegensätze, religiösen Fundamentalismus und neu erwachten Nationalismus schamlos aus. Georgien stellt einen - bislang - verlässlichen Bündnispartner des "Westens" dar. Die Türkei bedient sich der Turkvölker der Region. Der Iran und Saudi-Arabien unterstützen islamistische Strömungen. Und Russland selbst träumt von der Wiedergewinnung seiner hegemonialen Rolle im Kaukasus. Das ist die explosive Mischung, aus der weitere inner- und zwischenstaatliche Kriege entstehen können. Umso wichtiger ist ein Einlenken der Konfliktparteien in Tschetschenien unter Vermittlung von OSZE oder UNO, die Einberufung einer internationalen Konferenz unter Leitung der Vereinten Nationen über die Perspektiven der Region und - nicht zuletzt - die Beteiligung der betroffenen Bevölkerung an den Verhandlungen. Schließlich geht es ja um deren Schicksal. Auf keinen Fall darf zugelassen werden, dass Tschetschenien zu einem "Fall" für die NATO wird.
Aus: Friedens-Memorandum 2000
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