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Zehntausende sagen danke

70 Jahre Befreiung vom Hitlerfaschismus: Bundesweit Gedenkfeiern und Proteste gegen Rassismus und Militarisierung deutscher Außenpolitik

Von Claudia Wangerin und Johannes Supe *

In Berlin und ganz Deutschland haben am Wochenende Zehntausende Menschen an die Befreiung vom Faschismus am 8. Mai und die Kapitulation des Nazireichs am 9. Mai vor 70 Jahren erinnert. Einige verknüpften den Dank an die Befreier mit Protestaktionen gegen Krieg und Rassismus heute.

In der Hauptstadt legten vor den Sowjetischen Ehrenmalen in Treptow und in der Nähe des Brandenburger Tors Tausende Blumen und Kränze nieder. Die meisten Menschen kamen am Samstag zum größten Ehrenmal Berlins im Treptower Park. Nach Schätzungen der Polizei waren es rund 10.000, darunter viele Russen, die zum Teil Bilder gefallener Rotarmisten trugen. Botschafter verschiedener Länder hatten Blumen niedergelegt. Dieser Jahrestag sei wichtig »für uns und für alle«, so der russische Botschafter in Deutschland, Wladimir Grinin. Vor den Gedenktafeln lagen Berge von Blumen. Im Lauf des Tages besuchten auch Mitglieder und Sympathisanten des russischen Motorradclubs »Nachtwölfe« die Gedenkstätte. Am Rosengarten des Treptower Parks begingen am Samstag nachmittag Tausende unter dem Motto »Wer nicht feiert, hat verloren!« den Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus. Eingeladen hatte unter anderem die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA). »Ich hätte gar nicht gedacht, dass auch so viele Deutsche hier sind«, freute sich ein 32jähriger aus Belarus mit Blick auf die Stimmungsmache seit Anfang 2014 im Zuge der Ukrainekrise.

»Wir sind sehr gut beraten, Dinge voneinander zu trennen«, hatte der Leiter des Deutsch-Russischen Forums, Brandenburgs Ex-Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) am Rande des offiziellen Gedenkens erklärt. Russland habe im Zweiten Weltkrieg den höchsten Blutzoll zu verzeichnen gehabt. Er wünsche sich, dass die sowjetischen Opfer genauso Platz in der Erinnerung finden wie die Opfer des Holocaust, sagte Platzeck.

In mehreren deutschen Städten, darunter Frankfurt am Main, Stuttgart, Tübingen, München und Berlin fanden von Freitag bis Sonntag Demonstrationen der VVN-BdA, linker Gruppen und Friedensinitiativen statt, die den 70. Jahrestag der Befreiung von 1945 zum Anlass nahmen, gegen Rassismus, Abschottung gegen Flüchtlinge und die Militarisierung der deutschen Außenpolitik heute zu protestieren. »Angriffe auf Flüchtlingsheime, immer mehr Kriegseinsätze und Aufrüstung, zunehmende Stimmung der Angst und Verschärfung der Gesetze: Stellen wir uns dem Rechtsruck entgegen«, hieß es etwa im Frankfurter Aufruf.

Zu einer Demonstration unter dem Motto »Nein zu Krieg und Faschismus – für eine Politik der Verständigung und friedlichen Konfliktlösung« versammelten sich am Sonntag in Berlin laut Organisationsteam rund 2000 Menschen am Hackeschen Markt. »70 Jahre Tag der Befreiung« stand auf dem Fronttransparent, dahinter waren rote Fahnen kommunistischer Gruppen zu sehen. Aufgerufen hatten neben der Friedenskoordination auch Gewerkschaften, Verbände der Berliner Linkspartei sowie der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), verschiedene Hilfsorganisationen und die Berliner Montagsmahnwache. Neben dem Schauspieler Peter Sodann und dem Bundestagsabgeordneten Diether Dehm (Die Linke) sprach die Kommunistin und Zeitzeugin Erika Baum, die sich während des Zweiten Weltkriegs in Österreich an Aktionen gegen das Naziregime beteiligt hatte, zu den Demonstrierenden. »Auch heute wird auf der ganzen Welt Krieg geführt und vorbereitet«, sagte Baum. Zugleich werde beim offiziellen Gedenken an den 8. Mai der Widerstand gegen den Faschismus verschwiegen. »Im Staat der Banken, der Monopole und Konzerne will man davon nichts hören. Dort spricht man nur von Deutschlands dunklen Zeiten, nicht aber vom Wesen des Faschismus«, so Baum. Der Kampf derer, »die hier nicht mehr stehen können«, müsse fortgesetzt werden.

Nicht an dem Berliner Friedensmarsch teilnehmen konnte die frühere Pegida-Frontfrau Kathrin Oertel. Sie versuchte, sich mit einigen Anhängern und dem Transparent »Faschismus stoppen - roten, grünen oder braunen« in den Demonstrationszug zu drängen. Nachdem sich die Polizei trotz Aufforderung der Organisatoren zunächst weigerte, Oertel von der Demonstration auszuschließen, versperrten ihr Dutzende Friedensbewegte den Weg. »Kathrin Oertel und ihren Anhang wollen wir hier nicht«, erklärte Reiner Braun, Geschäftsführer der »Juristen und Juristinnen gegen atomare, biologische und chemische Waffen«. Die Demonstration endete am Nachmittag vor dem Reichstag.

* Aus: junge Welt, Montag, 11. Mai 2015


Tausende feiern die Befreiung

Veranstaltungen zum 70. Jahrestag / Linkspartei kritisiert Fernbleiben des Senats

Von Josephine Schulz **


Rote Nelken am sowjetischen Ehrenmal in Treptow, Gespräche über heutiges Engagement gegen Rassismus im Kino International. Berlin stand am Wochenende ganz im Zeichen des Befreiungsjubiläums.

Vor der Kinoleinwand haben die Musiker der »Sogenannten Anarchistischen Musikwirtschaft« ihre Saxophone und Trompeten in die Hand genommen. Sie spielen russische Soldatenlieder, Chansons der französischen Résistance und britische Kampfeslieder. Im Kino International feierte die LINKE am Samstag das 70-jährige Jubiläum der Befreiung vom Faschismus. Keine schweren politischen Reden, stattdessen ein Gedenken mit Musik, Film und Lesungen. »Ich fand den Vormittag sehr gelungen«, sagt eine ältere Besucherin. Sie sei gerührt gewesen, aber habe auch lachen können.

Der große Kinosaal ist am Morgen halb gefüllt. Anrührend sind die Ehrungen anwesender Antifaschisten. Kinder von Kommunisten, die Elternteile in Konzentrationslagern verloren haben, meist selbst ins Ausland flüchteten und sich dort am Widerstand beteiligten. Bewegend sind auch die literarischen Zeugnisse. Jugendliche lesen Absätze aus »Aimée und Jaguar« und der »Ästhetik des Widerstandes«. Aber es wird auch gelacht im Kinosaal. Über einen Filmausschnitt von Konrad Wolf, der Rotarmisten beim feuchtfröhlichen Piroggen-machen zeigt, beim heimlichen aber ziemlich regelmäßigen Wodkanachschütten unter den Tischen. »Beim Erinnern und beim Mahnen geht es nicht nur um gestern, es geht um heute und morgen«, sagte der Landesvorsitzende der Berliner Linkspartei, Klaus Lederer. Das Heute mache deutlich, dass nicht alle ihre Lehren aus der Geschichte gezogen haben und dass antifaschistischer Widerstand eine zentrale Aufgabe bleibe.

»Die Gesellschaft hat noch nicht alles verarbeitet, was Nazi-Deutschland hinterlassen hat«, sagt Hans Coppi, Landesvorsitzender der VVN-BdA. Das zeigten Pegida und andere Strömungen. Aktivisten gegen Rassismus stehen heute vor neuen Herausforderungen. »Wir sehen, dass die Mitte der Gesellschaft sehr wohl alltagsrassistische und antisemitische Positionen beherbergt«, betont Bianca Klose von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR). In manchen Berliner Bezirken gingen Neonazis wieder Schulter an Schulter mit sogenannten besorgten Bürgern. Der rechtsterroristische NSU zeige außerdem, so Lederer, dass es ein staatliches, ein institutionelles Rassismusproblem gebe.

Tage und Orte des Gedenkens sollen immer auch an die Verantwortung erinnern. Coppi plädiert deshalb dafür, die Erinnerungskultur in Deutschland weiter zu entwickeln. »Der 8. Mai muss offizieller Gedenktag werden.« Und unter die Debatte über Gedenkstätten dürfe man keinen Schlussstrich ziehen. Die Verdienste der Roten Armee und die Gefallenen auf ihrer Seite treten in den Ehrungen der Politiker im Lichte der Auseinandersetzungen mit Russland in den Hintergrund. »Es ist bedauerlich, dass der Senat es nicht einmal schafft, am russischen und am polnischen Ehrendenkmal einen Kranz abzulegen«, sagt Lederer.

Das taten indes viele andere. Mehrere Tausend Menschen kamen am Samstag in den Treptower Park, feierten dort den Tag des Sieges und gedachten am Ehrenmal der sowjetischen Gefallenen. Unter ihnen auch viele Russen, Angehörige von Getöteten, die mit Fotos an die Soldaten erinnerten. »Zu den aktuellen politischen Entwicklungen in Russland kann man unterschiedliche Meinungen haben«, sagt eine Besucherin. Hier aber ginge es um eine historische Leistung und ein historisches Opfer. Dass Russland aus dem allgemeinen Gedenken ausgeschlossen würde, sei inakzeptabel. Am Ehrendenkmal trifft man auf Symbole aller Art: NVA-Uniformen, FDJ-Flaggen. Auch die russische Motorradgruppe »Nachtwölfe« ist angereist und legt rote Nelken nieder. Sie werden von Landsleuten mit viel Applaus und russischen Parolen empfangen.

Auch auf der anderen Straßenseite ehrt man die Befreier. Hier geht es etwas weniger andächtig zu. Man feiert die Rotarmisten mit russischer Musik, Tanz - und Wodka.

** Aus: neues deutschland, Montag, 11. Mai 2015


Fehlende Realpolitiker

Olaf Standke über den politischen Umgang mit Russland ***

»Sie haben die Liebe Ihres Volkes verdient«, sagte Ban Ki-moon am Wochenende zur Verblüffung nicht weniger zu Wladimir Putin. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen war sichtbar beeindruckt von der Aktion »Unsterbliches Regiment«, mit der Millionen Menschen in ganz Russland der Helden des so opferreichen Kampfes gegen Nazideutschland gedachten. An der Spitze des Straßenzuges in Moskau marschierte der Präsident mit einem Foto seines Vaters; eine sehr »menschliche Geste«, wie viele Mitbürger fanden - und eben auch Ban, der ursprünglich dachte, das Ganze sei eine regierungsfeindliche Demonstration.

Die Führer der westlichen Welt fehlten am Tag des Sieges über den Faschismus in Moskau. Bundeskanzlerin Angela Merkel erinnerte zumindest mit Verspätung und einer Kranzniederlegung an die Opfer. Man muss den russischen Präsidenten wirklich nicht lieben, ja nicht einmal einer der hierzulande gern geschmähten »Putin-Versteher« sein. Aber Realpolitiker mit Geschichtsbewusstsein, der über harsche Kritik an Moskaus Politik zwischen Krim und Ukraine hinausdenkt - das wäre ja vielleicht nicht schlecht. Dann sollte man eigentlich zur Erkenntnis kommen, dass Konfliktlösungen und erst recht eine nachhaltige Friedensordnung auch 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ohne Einbeziehung Russlands schwerlich möglich sind.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 11. Mai 2015 (Kommentar)


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