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"Hat sich eine nicht nur virtuelle Internationale des Friedens etabliert"

10 Thesen für die Diskussion in der Friedensbewegung nach dem 15. Februar

Von Peter Strutynski*

1) Mit der Großdemonstration in Berlin am 15. Februar 2003 ist die Friedensbewegung endgültig aus dem Schatten der 80er Jahre herausgetreten und hat sich als runderneuerte außerparlamentarische Kraft im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik Respekt verschafft. Öffentlichkeit, Medien und Politik waren gleichermaßen beeindruckt von dieser großartigen Manifestation des Mehrheitswillens der Bevölkerung gegen den drohenden Krieg und für den Frieden. Diesen positiven Gesamteindruck gilt es zu bewahren. Noch nie war außerdem so deutlich, dass die deutsche Friedensbewegung Teil einer weltweiten Bewegung gegen Krieg und neoliberale Globalisierung ist. Ohne auf weltweite Organisationsstrukturen zurückgreifen zu können, hat sich mittels Nutzung der modernen Kommunikationstechnologien eine nicht nur virtuelle "Internationale des Friedens" etabliert. In ihr wirken keine hierarchischen Organisationsprinzipien, sondern freiwillige Übereinkunft aufgrund ähnlich gelagerter Interessen und politischer Ziele.

2) Gleichzeitig muss die kritische Haltung der Bevölkerung gegenüber dem Kriegskurs der USA stabilisiert werden. Dazu bedarf es neben der Aufrechterhaltung der öffentlichen demonstrativen Präsenz der Friedensbewegung (Mahnwachen, Demos usw.) verstärkter inhaltlicher Informations- und Diskussionsangebote. Zu vertiefen sind insbesondere Fragen, die sich mit der spezifischen Interessenlage der USA und Europas befassen, die den Irak-Konflikt im Kontext imperialer Weltmachtstrategien betrachten, die deutsche Rolle im europäischen und transatlantischen Kräftespiel untersuchen, grundsätzlich nach der Rolle und Wirkungsweise der Institutionen der Vereinten Nationen und der Bindungskraft des Völkerrechts (einschließlich des Grundgesetzes der BRD) fragen und schließlich zivile Alternativen nicht-militärischer Prävention herausarbeiten.

3) Die gegenwärtige Phase der Friedens- und Antikriegs-Bewegung bezieht (wieder) ganz neue gesellschaftliche Gruppen ein. Zu nennen sind hier in erster Linie Jugendliche, die zum ersten Mal in ihrem Leben mit der Grundfrage menschlicher Existenz (Krieg-Frieden, Tod-Leben) konfrontiert sind und auf die Straße gehen oder noch weiter gehende Aktionen in Erwägung ziehen (Schulstreiks u.ä.). Auch wenn klar ist, dass die meisten Aktivisten dieser Schüler/innen-Bewegung sich nur vorübergehend friedenspolitisch (im engeren Sinn) engagieren, ist es wichtig, die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit ihnen zu suchen, sie nach Kräften in ihren eigenständigen Aktivitäten zu unterstützen und - vor allem - wo es geht das politische Gespräch mit ihnen zu führen.

4) Wenig erklärbar ist die politische Abstinenz unter Studierenden. Das geringe Engagement an der Universitäten war mittlerweile schon Gegenstand von feuilletonistischen Beiträgen in den großen deutschen Meinungsblättern. Meiner Beobachtung nach ist es nicht Desinteresse, was die Studierenden an politischen Aktionen hindert. Der ganz überwiegende Teil der Studenten ist nicht nur gegen den Irakkrieg eingestellt, sondern verfügt auch über relativ gute Informationen. Ich meine, dass die politische Zurückhaltung des akademischen Nachwuchses mit dessen stark beanspruchender Situation zu tun hat: Die Hälfte bis zwei Drittel der Studierenden gehen einem Erwerbsjob nach, und zwar nicht nur während der Semesterferien, sondern das ganze Jahr über. Manchmal fragt man sich, ob nicht sogar der Job das wichtigste, das Studium eher im "Nebenerwerb" betrieben wird. Wenn dazu noch eine starke Freizeitorientierung kommt, kann man sich gut vorstellen, wie viel Zeit noch für etwas Viertes (z.B. das ehrenamtliche politische Engagement) übrig bleibt.

5) Die Bewegung gegen den Irakkrieg hat in den letzten Wochen vor der Demonstration am 15. Februar eine außerordentlich starke Dynamik erhalten, die sich aus mindestens zwei Quellen speiste: Einmal aus der plötzlich sichtbar gewordenen Spaltung der "freien Welt", insbesondere Europas, in Parteigänger und Gegner des US-Kriegskurses. Dies führte vor allem nach dem Papier der acht europäischen Staats- und Regierungschefs vom 27. Januar zu einer enormen Politisierung der öffentlichen Debatte über das Gewicht Europas in der Welt und über seine Rolle als Kriegs- oder Friedensmacht. Zum zweiten wurde die Diskussion angeheizt durch das polarisierende und arrogante Auftreten einer isolierten und nervös gewordenen US-Administration. Ihr Gang vor die Vereinten Nationen (am 12. September Bushs Rede vor der Generalversammlung und im November die Verabschiedung der UN-SR-Resolution 1441) könnte sich - aus Sicht der USA - einmal als historischer Fehler herausstellen. Denn damit war zumindest formal die UNO als Entscheidungsorgan über Krieg und Frieden anerkannt worden.

6) Die Bevölkerungsmehrheit gegen den Irakkrieg ist politisch natürlich nicht homogen. Gewiss haben auch viele Demonstranten in Berlin die Bundesregierung in ihrer Nein-Position unterstützen wollen. Insofern entsprach der "regierungsfreundliche" Teil der Schlusskundgebung (die Reden von Schorlemmer und Bsirske) der politischen Neigung eines mehr oder weniger großen Teils der Demonstranten. Nur: Auch sie gehen wesentlich weiter in ihrer Kritik an der Regierungspolitik und in ihren Forderungen an die Regierung, als die rot-grünen Parteiformationen es gern hätten. Egal wohin man kommt: Den meisten Beifall erhält man heute, wenn man von der Bundesregierung in der Irakfrage neben dem verbalen Nein auch die dazugehörigen Taten einfordert (so wie das in der Schlusserklärung ja auch formuliert ist). Dies sollte die Friedensbewegung verstärkt tun, nicht weil sie die Bundesregierung "vorführen" will (das erledigt sie sehr erfolgreich ja schon selber), sondern weil dieser Punkt künftig noch an praktischer Bedeutung gewinnen wird. Und zwar spätestens wenn der Krieg tatsächlich nicht verhindert werden kann und Deutschland aktive Beihilfe leistet!

7) In der Bevölkerung hat sich ein erstaunlich klares Bewusstsein bezüglich der wahrscheinlichen Beweggründe der US-Regierung für ihren Krieg gegen Irak gebildet. Leserbriefe sowie Publikumsreaktionen bei Fernsehdiskussionen, aber auch eigene Alltagserfahrung zeigen, dass die US-Regierung in den letzten Monaten mehr zur politischen Bildung beigetragen hat, als es jahrelange Zirkelschulungen in Politökonomie gekonnt hätten. Jeder Tankwart weiß heute, dass es den USA im Irak-Konflikt weder um Menschenrechte oder um Massenvernichtungswaffen, noch um die Bekämpfung des Terrorismus zu tun ist, sondern dass es ihnen hauptsächlich um die Kontrolle der Erdölvorräte des Nahen Ostens sowie um geostrategische Vorteile gegenüber dem "Rest der Welt" geht.

8) Dennoch könnte die Standfestigkeit der Antikriegs-Haltung der Bevölkerung Risse erhalten, wenn entweder der UN-Sicherheitsrat in einer weiteren Resolution den Standpunkt der USA bestätigt und diese daraufhin den "unvermeidlichen" Krieg beginnen oder wenn die USA weitere Kriegsgründe konstruieren (die Geheimdienste und privaten PR-Agenturen werden sich schon etwas einfallen lassen) und den Krieg ohne Resolution beginnen. Es gilt deutlich zu machen, dass das Völkerrecht und politische Vernunft einen Angriffskrieg auch dann verbieten, wenn er scheinbar vom UN-Sicherheitsrat abgesegnet wurde. Auch der Sicherheitsrat kann völkerrechtswidrige Beschlüsse fassen - wird er doch auch nur von ganz normalen Regierungen gebildet, die es mit dem Völkerrecht und der UN-Charta nicht immer sehr genau nehmen. Hier ist noch großer Aufklärungsbedarf vorhanden. Dasselbe gilt auch für die einschlägigen Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik (insbes. Art. 26), die den Staat zu einer friedensorientierten, den Grundsätzen des Völkerrechts gehorchenden Außen- und Sicherheitspolitik verpflichten.

9) Erfahrungsgemäß lässt der Widerstand einer Bewegung nach, wenn ihr unmittelbares Ziel nicht erreicht wurde. Dies war der Fall nach der Stationierung der Atomraketen im November 1983, nach dem Beginn des Golfkrieg 1991 und nach dem Beginn des Afghanistan-Kriegs im Oktober 2001. Es ist generell schwer, einem solchen "Abschlaffen" der Bewegung vorzubeugen. Soweit der Grund dafür aber darin zu suchen ist, dass die Bewegung gegen den drohenden Irak-Krieg in erster Linie eine reine Anti-Bewegung war bzw. ist, könnte der Gefahr des Zurückfallens dadurch teilweise vorgebeugt werden, dass die Friedensbewegung ihre Alternativen zum Krieg deutlicher zum Ausdruck bringt, ihre Anti-Haltung (die muss natürlich bleiben!) also durch ein Pro ergänzt. Dieses Pro sollte über noch relativ allgemeine Formulierungen wie etwa "Eine andere, friedlichere Welt ist möglich" hinausgehen und konkrete Ziele formulieren. Dabei kann an den gegenwärtigen Irak-Konflikt angeknüpft werden: Das Ziel einer Beseitigung und Unschädlichmachung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme sollte nicht nur für den Irak, sondern für alle Staaten geltend gemacht werden. Der Demilitarisierung des Irak muss die Abrüstung anderer Länder der Region folgen. Regionale Sicherheit im Nahen Osten wird langfristig nur auf der Basis gleichberechtigter Beziehungen zwischen strukturell angriffsunfähigen Staaten (einschließlich eines palästinensischen Staates) herzustellen sein. Ähnlich verhält es sich mit der Forderung, dem internationalen Recht mehr Geltung zu verschaffen. Das strikte Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen und die universellen Menschenrechte müssen von allen Staaten respektiert werden. Schließlich sollten die Teileinsichten der Bevölkerung in globale ökonomische und ökologische Zusammenhänge (siehe These 7) genutzt werden, um praktikable Alternativen zum verschwenderischen und zerstörerischen Kapitalismus zu diskutieren.

10) Je mehr Komplexität und Differenziertheit der Argumentation zunehmen (was bei der Formulierung von positiven Visionen eines gerechten Friedens unvermeidbar ist), desto weniger kann diese Aufgabe von einem breiten Bündnis unterschiedlichster sozialer und politischer Bewegungen bzw. Organisationen erfüllt werden. Vielmehr gehört die Ausarbeitung weiter reichender friedens- und gesellschaftspolitischer Ziele in die "Zuständigkeit" der jeweiligen Organisationen und Vereinigungen der Friedensbewegung (einschließlich ihr verbundener Bewegungen anderen Zuschnitts). Sicherzustellen ist allerdings ein lebendiger Austausch dieser verschiedenen Ansätze durch gemeinsame Seminare, Kongresse, "Ratschläge" sowie durch Veröffentlichungen in den diversen Publikationsorganen. Aus diesem Diskussionsprozess wird sich im Laufe der Zeit möglicherweise eine immer größere Schnittmenge gemeinsamer Überzeugungen und politischer Orientierungen ergeben. Dessen ungeachtet bedürfen wir aber einer größtmöglichen Zusammenfassung vieler gesellschaftlicher Kräfte/Organisationen zur Abwehr friedensgefährdender, auf Aufrüstung, militärische Interventionen und Völkerrechtsverletzungen gerichteter Tendenzen - im Nahen Osten, in Zentralasien, in den USA oder bei uns in Europa und in der Bundesrepublik. Da, wie es in der Abschlusserklärung vom 15. Februar heißt, "ohne Frieden alles nichts" sei, muss in extremen Gefährdungssituationen eine breite Bewegung mit einem kleinen, aber wichtigen gemeinsamen Nenner gebildet werden. Im Fall des drohenden Irakkriegs war dies das "Aktionsbündnis 15. Februar". Wir sollten es für die Dauer dieses Konflikts fortführen.

Kassel, den 27. Februar 2003

* Peter Strutynski, einer der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.


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