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Nur noch Utopien sind realistisch

Der Sozialphilosoph Oskar Negt sollte in Berlin über Öffentlichkeit und Demokratie sprechen. Daraus wurde ein leidenschaftliches Plädoyer für demokratische Öffentlichkeit

Von Von Martin Lejeune *

Mitten in seinem Vortrag wird Oskar Negt jäh unterbrochen. Gerade eben hat der Soziologe beim Kongress »Demokratie und Öffentlichkeit« vergangenes Wochenende in Berlin von der betriebswirtschaftlichen Mentalität gesprochen, die sich »überall hineinfrisst in die Opernhäuser, Schauspielhäuser und Schulen«, da ruft eine Frau dazwischen: »Kann nicht endlich auch mal von Zivilgesellschaft gesprochen werden?« Negt spricht weiter, doch die Frau lässt nicht locker, trotz der Saalordner, die mittlerweile unruhig werden. Kaum werde Protest artikuliert, werde man auch schon zum Schweigen gebracht, ruft die etwa 50-jährige Frau erneut dazwischen. Schließlich wird es Negt zu bunt. »Sie unterbrechen mich andauernd, so dass ich meinen Faden verliere.« Demokratische Öffentlichkeit könne aber nur funktionieren, wenn man den anderen ausreden lasse. Das Publikum lacht, doch die Frau gibt nicht auf. »Ich bin die proletarische, Sie inzwischen die bürgerliche Öffentlichkeit!« Das Publikum lacht nicht mehr.

In der Tat erlebt diese Republik in diesen Tagen einen Paradigmenwechsel. Es ist die bürgerliche Öffentlichkeit in den urbanen Zentren, die sich immer vehementer gegen ihre eigenen politischen Vertreter wendet - und damit eine neue Klammer gesellschaftlichen Widerstandes bildet. Der Protest gegen den Neubau des Hauptbahnhofes in Stuttgart etwa habe längst das Schichtspezifische verloren, betont denn auch Oskar Negt in seiner Rede. Negt sieht in dem Aufstand der Bürgerlichen im Ländle die plötzliche »Reaktivierung menschlicher Maße, und zwar nicht nur bei den unmittelbar Betroffenen, die verschiedene Interessen mit dem Projekt verknüpft haben, sondern bei diversem bürgerlich-wohlanständig und im Protest vereinigten Klientel, bis hin zum adrett gekleideten Anwalt mit Krawatte, der plötzlich mit der Trillerpfeife im Mund zum Bauzaun marschiert.«

An der Neubaustrecke nach Ulm, die Milliarden von Euro koste, nur damit man Dank dieser acht oder zehn Minuten betriebswirtschaftlicher Einsparung schneller durch die Peripherie hindurchrauschen könne, so Negt, werde die Abkoppelung der Verkehrssysteme von den Bedürfnissen der Menschen deutlich. Die Neubaustrecke, eine weitere Erscheinung des Unterschiedes zwischen Peripherie und Zentrums. »Diese Form des Kapitalismus organisiert die Zentren und lässt die Peripherien veröden. Wir haben in Frankreich die Proteste in den Vororten der großen Städte, den sogenannten Banlieues als Zeichen dafür, dass es ab einem bestimmten Zeitpunkt überhaupt nichts mehr nutzt, die Peripherie zu unterstützen, weil es zu spät ist.« Doch statt dem massiven Ärzte- und Lehrermangel in ostdeutschen Landregionen Abhilfe zu verschaffen, würden Phantasiebeträge dafür verwendet, in die Verbindung zwischen zwei Zentren mehr Geschwindigkeit zu bringen.

Auch andere Redner auf dem Kongress äußerten sich zu Stuttgart 21. »Ein vitales Gemeinwesen ist auf Emphase angewiesen, nicht nur auf die Pflichterfüllung von Wahlrechten«, forderte Michael Bürsch vom Centrum für Corporate Citizenship Deutschland (CCCD), das Unternehmen auf dem Weg in die Bürgergesellschaft begleitet, und zitiert Max Frisch: »Demokratie heißt Einmischung in die eigenen Angelegenheiten.« Und wenn es einmal eine Emphase zur Einmischung gebe, wie bei dem Protest gegen Stuttgart 21, könne diese auch nicht mehr durch »Polizeigewalt niedergeknüppelt« werden. Alle diejenigen, die in und um Stuttgart etwas zu sagen hätten, sollten der neuen Qualität von Einmischung nicht mit den Mitteln des Gewaltmonopols des Staates antworten. Für Bürsch braucht Demokratie nicht nur Öffentlichkeit, sondern auch eine intakte Bürgergesellschaft. Bürgergesellschaft beschreibe ein Gemeinwesen, in dem die Bürger durch das Engagement in selbst organisierten Vereinigungen und durch die Nutzung von Beteiligungsmöglichkeiten die Geschicke des Gemeinwesens deutlich bestimmen können. Der freiheitliche Staat, so Bürsch, lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren oder schaffen könne. Demokratische Tugenden wie Toleranz, Fairness oder Gewaltfreiheit könnten nicht staatlich erzwungen werden, weshalb es einem starken zivilgesellschaftlichen Engagement bedürfe.

Auf die neue Qualität und Widersprüche bürgerlicher (Gegen-) Öffentlichkeit machte wiederum Oskar Negt aufmerksam. Es sei heute nicht mehr so, dass man für alle Bereiche einen Enthüllungsjournalisten wie Günter Wallraff benötige, sondern das Fatale dieser Zeit sei vielmehr, »dass zu viele Informationen auf uns zu kommen und es immer mehr auf die Verarbeitungsform dieser Informationen ankommt«. Negt spielte damit darauf an, dass Informationssammlungen wie die Internet-Plattform Wikileaks zwar von jedermann öffentlich einsehbar sind, sich am Beispiel des von Wikileaks zugänglich gemachten Materials über den Afghanistan-Krieg aber auch die Grenzen dieser neuen Öffentlichkeit zeigen. Die rund 92 000 Dokumente seien wegen ihrer Komplexität und Datenfülle für den durchschnittlichen Medienrezipienten nicht mehr zu verarbeiten, kritisierte Negt.

Das gewaltige Kongress-Thema »Demokratie und Öffentlichkeit« ging Negt mit philosophischen Fragestellungen an wie z. B.: Was ist eigentlich Wirklichkeit? »Ist es Wirklichkeit, wenn man 750 Milliarden Euro als irgendeine Garantiegröße erwähnt?«, fragte Negt in Anspielung auf das spektakuläre Rettungspaket der EU und des Internationalen Währungsfonds von Mai dieses Jahres. Die Zusagen in Höhe des doppelten Staatshaushaltes der BRD seien bloße Phantasie. Man gehe heute mit Milliarden um wie noch vor wenigen Jahren mit Millionen. »Verdreht sich da nicht etwas, ist das, was Wirklichkeit ist, zur Phantasie geworden?«, fragte Negt weiter.

Auch bei anderen Themen entferne sich die Politik zunehmend von der Wirklichkeit. Wenn z. B. der niedersächsische Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP) mitteile, dass die Fässer mit Atommüll rund 500 Jahre im Salzstock bei Gorleben verbleiben sollen, dann ist dies für Negt eine mehr als anmaßende Äußerung in Anbetracht der Verrottung von Fässern bereits nach 20 Jahren, die Wissenschaftler in der Schachtanlage Asse, einem Forschungsprojekt zur Lagerung radioaktiver Abfälle, unlängst festgestellt haben. Wenn jemand trotz der Erkenntnisse aus Asse ein Versprechen in dieser Größenordnung abgebe, dass die Fässer in Gorleben 500 Jahre haltbar seien, dann habe das Fiktive in den politischen Äußerungen einen Grad angenommen, dass man sagen könne: »Eigentlich sind nur noch die Utopien realistisch.«

Besonders hellhörig wurden die rund 600 Kongressbesucher, als Negt die Tiraden Guido Westerwelles (FDP) gegen Langzeitarbeitslose kommentierte - mit dem pointierten Satz: »Es gibt mehr Dekadente unter den Hotelbesitzern als unter den Hartz IV-Empfängern.« Das Wort von der Dämmerung, das Max Weber benutzt, die Beschreibung des antiken Untergangs, spiele jedoch tatsächlich gegenwärtig eine Rolle. »Ich glaube«, so Negt, »dass wir in einer Zeit leben, in der die wirtschaftlichen Konjunkturen und Rezessionen nicht so entscheidend sind dafür, dass die Lebensverhältnisse sich entfernen vom dem, was wir unter Demokratie und politischer Öffentlichkeit verstehen. Ich glaube, dass wir in einer Welt leben, in der alte Normen, Institutionen und Erwartungen, Haltungen nicht mehr unbesehen gelten und neue noch nicht da sind, aber intensiv gesucht werden. Wir haben ein Vakuum, aus dem wir raus müssen.«

* Aus: Neues Deutschland, 5. Oktober 2010


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