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"Es hat niemals ein Land gegeben, das nur Gerechtes oder Richtiges tat"

Victor Grossman antwortet auf die Kritiker der Demonstration vom 15. Februar

Beiliegenden "Offenen Brief" hat uns Victor Grossman geschickt, ein amerikanischer Autor, Jude und friedensbewegt. Er reagiert damit auf die Kritik jener, die meinten, die große Friedensdemonstration in Berlin am 15. Februar 2003 hätte sich durch Antiamerikanismus und Antisemistismus diskreditiert. Diese Kritik und erste Stellungnahmen aus der Friedensbewegung haben wir an anderer Stelle dokumentiert ("Ist die Friedensbewegung antiamerikanisch?").


Es ist von einigen Leuten, darunter sehr geschätzten wie Lea Rosh und Ralf Giordano, Kritik gegen die Demonstration vom 15. Februar geübt worden. Sie meinen, daß sie, und die Friedensbewegung überhaupt, enthalten naive oder böswillige Elemente des Antiamerikanismus und Antisemitismus. Deshalb fordern sie eine "kritische Auseinandersetzung" mit dieser Bewegung.

Nun, ich bin Amerikaner und ich bin auch Jude. Ob ich mit meinen 75 Jahren noch naiv bin müssen andere urteilen. Doch nachdem ich an der Demonstration vom 15. Februar teilnahm finde ich, dass wenn es Naivität - Böswillgkeit möchte ich nicht unterstellen - dann ist sie eher bein den Kritikern zu finden als bei den Teilnehmern!

Warum? Solche Kritiken stammen eben selbst aus einer Ablehnung, sich kritisch auseinanderzusetzen - vor allem mit der Politik der USA, aber auch mit der Politik von Israel.

Es wäre an der Zeit, meine ich, dass solche Kritiker begreifen, dass es niemals ein Land gegeben hat, das nur Gerechtes oder Richtiges tat. Diese Erkenntnis kann schmerzlich sein, wie wenn Katholiken feststellen, dass ihre Kirche und deren Päpste in der früheren und auch neueren Geschichte Verbrechen schuldig war, oder wie Kommunisten schmerzlich mitbekamen, daß ihr Vorbildland unter Stalins Führung ebenfalls monströse Verbrechen beging. Auch die Völker und Bewunderer von England, Frankreich und vor allen anderen Deutschland müssten von den Mordtaten ihrer Regierungen erfahren, und sie tadeln, womöglich auch fluchen und bekämpfen. Das gilt auch heute, nicht nur für die blutige Regierung von Saddam Hussein sondern auch die der USA und Israel.

Eher als Mensch denn als Jude betrauere auch ich den Tod von unschuldigen israelischen Jugendlichen in Diskos oder Pizzerien und von Bürgern aller Altersgruppen in Bussen und auf Marktplätzen. Doch auch solche Taten der Selbstmörder lassen mich nicht vergessen, dass Ariel Sharon einst für das brutale Töten von Flüchtlingen in Lebanon verantwortlich war, dass israelische Soldaten auf die Köpfe von palästinensischen Kindern zielten, die Steine warfen, dass israelische Panzer und Hubschrauber allnächtlich Schrecken, Vernichtung und Tod in Gebieten verbreiten, die nach unzähligen UNO-Beschlüssen nicht zu Israel gehören. Ich kann auch nicht die Worte der früheren Außenministerin der USA Albright vergessen, die das Sterben von 500.000 irakischen Kindern als "der Sache wert" rechtfertigte.

Noch kann ich mich einfach abtun, was den Frauen, Kindern und Männern von Irak nun wohl bevorsteht, weil ihnen eine schlechte Regierung aufgedrängt wurde (die lange Jahre mit den USA engstens verbündet war). Sind mein Gedächtnis oder meine kritikischen Sinne naiv? Oder ist es nicht weit eher naiv, sich aufzuregen, weil Friedensanhänger von "blutrünstigen Kriegstrachten", von "schießwütigen Cowboy-Politikern", oder von einer von "Geld und kaltem Interesse motivierte Politik" der jetzigen USA-Regierung sprechen und auf Bannern anprangern. Die sich darüber so aufregen und leugnen reden selber so nebenbei von der Notwendigkeit eines "gewaltsamen Regimechange"!

Gerade als Amerikaner kann ich nicht vergessen, dass ein Gouverneur George Bush in Texas mehr als 150 Todesurteile mit schneller Handbewegung unterschrieb. Und der so arrogant wie gefährlich sagt: "Wer nicht für uns ist ist gegen uns!" oder "Mein Geduld ist zu Ende...Das Spiel ist aus!" Das soll wohl kein Schießwütiger sein? Oder dass ein Justizminister Ashcroft, ein ganz offener Rassist, fast alle demokratische Rechte in meiner Heimat einschränkt oder einschränken will. Oder dass Cheney, Bush, Rice und Rumsfeld fast alle mit Erdöl-Multis engstens lieiert sind, die seit der Zeit von John D. Rockefeller für mehr Sterben und Leiden verantwortlich sind als alle andere Branchen der Wirtschaft zusammengenommen (außer nur den Waffenherstellern, mit denen diese Leute außerdem recht gut stehen). Die sollen alle mit "Gier und kaltem Interesse" nicht zu tun haben? Wer ist denn hier naiv?

Was "gewaltsamen Regime-Change" betrifft, bin ich alt genug um etliche solche Umstellungen erlebt zu haben. Die Liste ist lange - Mossadeq in Iran, Arbenz in Guatemala, Lumumba im Congo, Sukarno in Indonesien, gewählte Regierungen in Griechenland, Brasilien und so viele mehr. Immer waren Männer der CIA dabei - wenn nicht gar Männer in Uniform, wie etwa in Grenada oder Panama, und ganz abgesehen von Vietnam, Laos, Kambodien. Fast immer war das Resultat Folter, Tod, Leiden, oft für viele sehr blutrünstige Jahrzehnte. Kennen diese Kritiker die Geschichte nicht? Schließen sie ihre Augen? Was ist hier Naivität? Oder muß man andere Worte suchen?

Oder bin ich tatsächlich naiv! Denn Antisemitismus und Antiamerikanismus habe ich am 15. Februar nicht gesehen. Mein eigenes Transparent - "Americans Say No!" - erhielt von allen Seiten nur Begrüssung und lächelnde Zuneigung! Ich sah nicht die so harsch kritisierte "einheitliche Meinung", sondern recht verschiedene (für und gegen Schröder, zum Beispiel). Gewiß sah ich einige Banner gegen Ariel Sharon. Soll man ihn loben? Weitaus die meisten waren gegen Bush und Rumsfeld. Sind das etwa Friedensengel?

Sind denn die jüdischen Menschen in Israel antisemitisch, die gegen den Krieg gegen Palästinenser opponieren, die enthüllen, dass Sharons Regierung Pläne diskutiert, einen Irak-Krieg zu gebrauchen, um die letzten Palästinenser aus ihrer Heimat zu vertreiben? Sind Avneri und die "Refuseniks", die es ablehnen, als Soldaten gegen Wohnhäuser zu dienen, gegen Olivenhaine, gegen Schüler und Studentern, die nicht zu ihren Lehrstätten und werdende Mütter, die nicht in die Kliniken dürfen? Sind solche jüdische Soldaten, die schon in früheren Kriegen dienten, aber jetzt nicht mitmachen, Antisemiten? Waren die Witwe und Enkelin von Rabin antisemitisch, als sie gegen die Likkud-Politik der Regierung aussprachen?

Und ist Dustin Hoffman antiamerikanisch oder antisemitisch wenn er die Politik der Buschregierung ablehnt? Wie ist es mit den 500.000 Menschen - eine große Zahl davon auch jüdisch - die in New York am 15. Februar demonstrierten? Und die in San Francisco? In Birmingham? In Los Angeles? Oder Lawrence (Kansas), Menominee (Wisconsin) und Hunderte mehr? Und die Städträte von Chicago und 70 andere Städte, die sich gegen den Krieg entschieden, zum erstenmal in der Geschichte so deutlich? Sind sie alle anti-semitisch oder anti-amerikanisch? Oder alle einfach naiv - anders als die klugen Kritiker des 15.Februar?

Nur noch drei Bemerkungen: Erst eine Erinnerung an die Demonstration am Gendarmenmarkt im Oktober 2002, als 50.000 Antikriegsdemonstranten gemeinsam "NAZIS RAUS" riefen - in Protest gegen ein NPD Banner, das man am Französichen Dom anhängte. Die Demo ging nicht weiter bis es entfernt wurde. Das sind mitunter die gleichen Gruppen und Menschen die am 15. Februar dabei war.

Zweitens, es gibt eine lange Tradition in der USA-Geschichte, die gegen Kriege im Ausland protestierte (mit Ausnahme nur der des Zweiten Weltkriegs gegen Hitlerdeutschland). Unter den bekanntesten Teilnehmern waren der Republikaner Abraham Lincoln, der Dichter Thoreau, der Autor Mark Twain, der Sozialist Eugene Debs (der dafür lange eingesperrt wurde), der Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, der womöglich dafür das Leben verlor! Man kann sie alle schwer als Antiamerikaner nennen; für solche Sentimente aber fand man in den 1950er Jahren ein anderes Wort: "Unamerikaner", ein Wort, das an eine Ära und Denkart erinnert, die mich persönlich für viele Jahre aus meiner Heimat vertrieb. Man soll sehr vorsichtig mit Schablonenwörtern sein, liebe Kritiker!

Diese Mahnung muß ich selber gleich vergessen, wenn ich von jenen Kräften sprechen, die als Fundamentalisten bekannt sind: verbohrte, ignorante Typen, die geistig noch im Mittelalter leben, und die bereit sind, auch die schlimmsten Verbrechen gegen Frauen und Kinder zu rechtfertigen - denn sie seien die Strafe ihres eigenen blutdurstigen Gottes. Männer wie Bush und Ashcroft stehen ihnen nahe oder gehören zu ihnen. Im Moment sind sie mit Bush Verteidiger der Politik von Ariel Sharon, aus eigenen Erwägungen und weil sie an dem Armageddon glauben - eine furchterliche Endschlacht die mir allzu sehr an dem anderen fürchterlichen Fremdwort Holokaust erinnert! Besorgt warne ich vor solchen Verbündeten - wie vor Fanatikern aller Glaubensrichtungen.

Nein, als Amerikaner und Jude fand ich die Demonstrationen in Berlin und die Welt am 15. Februar keinesfalls antiamerikanisch und keinesfalls antisemitisch. Für mich waren sie ein erstaunliches, begeisterndes Willenbekenntnis von 10 bis 20 Millionen Menschen in den meisten Ländern dieser Erde von Thailand bis Tel Aviv, von Sydney bis San Francisco, von Berlin bis Brasilia, eins der größten Ereignisse das ich in meinem Leben je erlebt habe. Ich wünschte nur, sie wäre noch mächtiger, denn sie ist in Wirklichkeit auf der Seite fast allen Amerikanern, fast allen Juden, fast allen Menschen, egal woher, auf dieser ganzen nach Frieden sehnenden Welt.

Victor Grossman, Journalist und Autor, New York und Berlin


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