Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Zweckbündnisse, leidende Genossen und grüne Friedenstauben"

Ein unbestechlicher Aufruf zur Dialogbereitschaft der Friedensbewegung und zur Friedens-Resozialisierung in den Parteien

Von Peter Bürger (Ökumenisches Friedensnetz Düsseldorfer Christinnen & Christen)

"Entrüstet Euch, es ist ja eure Erden."
(Erika Mann)

"Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, der um eure Herzen liegt."
(Flugblatt der Weißen Rose)

Die Parteien tragen ihre alten Namen nur noch als Hülle.
Viele Gewerkschaften wissen nicht mehr genau, was sie hätten sein sollen.
Die Kirchen waren bis vor kurzem sehr mit sich selbst beschäftigt.
Die Bundestagsabgeordneten können nicht mehr an die Verfassung glauben, wenn von Gewissen die Rede ist.
Die Staatsorgane beargwöhnen jeden, der - und jede, die - dem Grundgesetz noch wirkliche Geltung zutraut.
Der Achtundsechziger ist zum Symbol für die mögliche Hässlichkeit unserer korrumpierbaren Spezies geworden.
Wer sollte aufstehen gegen den Wahnsinn des Krieges?
Wer, wenn nicht DU?


Die zweite Januarhälfte und der Februar 2003 scheinen der Bundesrepublik eine neu erwachte Friedensbewegung auf breiter Basis zu schenken. In vielen Städten, die in den letzten 16 Monaten allenfalls Kundgebungen mit ein paar hundert Teilnehmern gesehen hatten, gehen jetzt viele Tausende auf die Straße. Das Phänomen ermutigt, und doch sind Schattenseiten unverkennbar.

„Zweck“-Bündnisse?

Ermutigend ist, dass beide großen Kirchen nunmehr deutlich Farbe bekennen. Die EKD-Leitung zeigt sich friedenspolitisch hoch informiert und redet nie gehörten Klartext. Die katholische Bischofskonferenz äußert endlich jenes unmissverständliche „Nein zum Krieg!“, das der Papst schon vor dem Angriff auf Afghanistan ohne Einschränkung bekannt hatte. Nunmehr gehen nicht nur die Christenmenschen aus den konfessionellen und ökumenischen Netzwerken für den Frieden auf die Straße. In den neuen Bündnissen sind auch Gewerkschaftsgliederungen aktiv vertreten, ebenso Parteien. Beim Düsseldorfer Friedenstag am 1. Februar mit mehr als 7.000 Teilnehmern verzichteten die Parteivertreter auf eigene Redebeiträge und respektierten so den unverzichtbaren NGO-Charakter der Friedensbewegung. Ihre „Interessen“ konnten sie indessen über Pressearbeit und Parteifahnen hinreichend zur Geltung bringen. Gleichwohl werfen neue Allianzen ernsthafte Fragen auf. Was ist etwa davon zu halten, wenn Parteifunktionäre mancherorts das Spektrum der Friedensbewegung und der Globalisierungskritiker bei ihrem Antikriegs-Protest gezielt umgehen, um sich unbequemen Fragen zu entziehen? Warum können Zeitungen, die eine äußerst vielgestaltige, aktive Friedensbewegung vor Ort mehr als ein Jahr lang zugunsten von Kaninchenzüchter-Nachrichten ignoriert haben, auf einmal umfassend und reich bebildert informieren? Ist der Protest für eine Weile der Regierung sehr genehm und ist das den Medien sehr wohl bewusst? Wie lange wird das so bleiben? Umgeht die Berichterstattung womöglich schon jetzt alle wirklich kritischen, wunden Punkte? Ernüchternd war für mich persönlich der Hinweis eines lokalen Sprechers der Grünen, es handele sich ja nun bei den so genannten Bürgerbündnissen um ZWECK-Bündnisse. Ein durchaus bekümmerter Sozialdemokrat rechnete im gleichen Zusammenhang damit, die rot-grüne Regierung werde sich nach Abschluss der Landtagswahlen vom 2. Februar den Positionen der USA wieder deutlich annähern. Damit traf er die illusionslose Einschätzung der meisten Friedensaktivisten, die am 1. Februar für eine klare, nicht käufliche Antikriegs-Stimme der Bundesrepublik im UN-Sicherheit auf die Straße gegangen waren. Am 5.2. berichteten dann die Medien auch prompt, dass Verteidigungsminister Struck die bundesdeutschen Truppen in Kuwait beachtlich verstärken will.

Unbestimmte ZWECK-Bündnisse sind für eine glaubwürdige Friedensbewegung indiskutabel. Wir wollen gerechtere und rechtstaatlich geordnete Weltverhältnisse, in denen Konflikte gewaltfrei und durch intelligenten Dialog gelöst werden. Uns treibt die Sorge, dass eine verantwortungslose Wildwest-Politik mittelfristig einen neuen „Weltkrieg“ produziert. Es gibt jedoch auch für den tagespolitischen Protest nur einen einzigen wirklichen „Zweck“: Menschen – gleich wo auf dem Planeten – dürfen nicht zum Opfer der Massenmordtechnologie und zum Kollateral-Abfall ökonomisch-geostrategischer Interessenskomplexe werden!

Die Friedensbewegung fordert von ihren Freundinnen und Freunden in den Regierungsparteien den Aufstand

Wo also läge der Zweck rot-grüner Bereicherungen der Friedensbewegung? In jenen geheimen Instruktionen, die derzeit bundesweite Parteizentralen mit strategischem Kalkül an alle Untergliederungen versenden? – Ich spare mir längere Ausführungen zur CDU, deren taktische Positionen zum so genannten Irak-Konflikt im krassesten Gegensatz zur Weltökumene der Christenheit stehen – einige US-Südstaatensekten ausgenommen. Nicht wenige Christen in der CDU wünschen sich, die eiskalten Zyniker der Parteispitze würden in Sachen Krieg und Frieden zugunsten von Jürgen Todenhöfer, Heiner Geißler und anderen endlich schweigen. Jeder moralische Kredit dieser Partei wird zur Stunde endgültig verspielt. – Wie sieht es also bei den Regierungsparteien aus, deren Logo jetzt immer häufiger auf Flugblättern sichtbar gepaart ist mit einer Friedenstaube? Um eine faire Auseinandersetzung mit Mitgliedern der SPD oder der Grünen kommt die Friedensbewegung nicht herum! Einzelne Mitglieder beider Regierungsparteien sind auf unterschiedlichsten Ebenen der Friedensbewegung engagiert. Sie teilen ohne Abstriche den klaren Konsens der gesamten Friedensbewegung. Sie gehören zu uns. Wer mit ihnen spricht, bekommt fast immer eine unsäglich leidvolle Zerrissenheit zu spüren. Aus meiner Biografie heraus kann ich sie nur schwer verstehen. Als vor über 20 Jahren ein Mann, der mit dem massenmörderischen Diktator Pinochet engste Freundschaft pflegte, zum Kanzlerkandidat gekürt wurde, habe ich als 18Jähriger die Partei, die das vermochte, über Nacht verlassen. Das war für mich das schmerzhafte Ende jeder denkbaren „kirchlichen Identität“ in Organisationen. Als Zuhörender kann ich die Austrittsskrupel grüner und sozialdemokratischer Friedensfreunde dennoch nachvollziehen. Einer unserer aktiven Mitarbeiter im Ökumenischen Friedensnetz ist seit über 40 Jahren Sozialdemokrat. In seinem Ortsverein schüttelt fast jeder den Kopf über die Regierung Schröder. In anderen Beispielen geht es um grünes kommunalpolitisches Engagement, um enge menschliche Bindungen vor Ort oder um ein Zuhause in der Partei, das manchmal gar für ein Lebenswerk steht.

Wir können auch als konsequent außerparlamentarische Friedensopposition von grün-roten Friedensfreundinnen und Friedensfreunden nicht kategorisch den Parteiaustritt verlangen. Das wäre Anmaßung. Was wir jedoch in jedem Fall – und mit höchster Eile – einfordern müssen, ist ihr aktiver Widerstand in ihren Parteien! Ich kenne unzählige SPD-Mitglieder, die in ihrer Partei die SPD eines Willy Brandts nicht wiedererkennen, von den Wurzeln der Parteigeschichte ganz zu schweigen. Abends lesen sie das neuste Lafontaine-Buch, und an der Wand hängt ein Bild von Tony Benn. Sie sind sich sehr wohl bewusst, dass mit Schröder und Blair ein gewalttätiger Prokapitalismus die europäische Sozialdemokratie geputscht hat, wie er selbst in der Nachkriegs-CDU nicht geduldet worden wäre. Mehr als die Friedensnobelpreis-Rede Willy Brandts von 1971 ist zur Stunde für einen innerparteilichen Widerstand vielleicht gar nicht vonnöten. Brandts Grundprinzipien lauteten übrigens: „Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge!“ „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“

Viele Mitglieder der Grünen gestehen mir, dass sie die hässlichen Gesichter jener einstigen grünen Friedenspropheten, die sich durch Geld und Macht vollständig kaufen ließen, nicht mehr ertragen. Sie phantasieren Bruchstücke einer bis zur Unkenntlichkeit entstellten Bewegung. Dieses Leiden hört langsam auf, sich in endlosen Depressionen und gleichgültiger Lethargie Zuhause auf der Couch zu entfalten. Schon bilden sich – nicht nur in den Jugendorganisationen von Grünen und SPD – nach dem Vorbild Großbritanniens – kritische Zirkel und Kreise. Um der Menschenopfer einer remilitarisierten Politik willen müssen wir als Friedensbewegung dringlich verlangen, dass der innerparteiliche Widerstand sich ohne faule Parteisolidarität endlich öffentlich äußert: Ihr seid nicht nur die Basis, ihr seid die Mehrheit! Ohne Rückgrat kann niemand zur Friedensbewegung gehören. Werdet jetzt laut, bevor es zu spät ist! Vergesst eure Gleichgültigkeit und eure auswendig gelernten Rechtfertigungsargumente von gestern. Steht noch heute auf, bevor neue Streubomben wiederum viele tausend unserer Menschengeschwister zerfetzen. Begreift, dass es nicht um Rechthaberei oder disputable Geschmacksfragen, sondern um einen großen Ernst geht. Fragt euer Gewissen, was wichtiger ist: Parteiräson oder Menschenleben? Exkurs: Feindbilder und Versöhnung am Beispiel „der“ Grünen

Ich halte es für höchst angesagt und überfällig, dass die Friedensbewegung vor Ort jeden Parlamentarier und jeden Parteidelegierten, der sich zur Stimmabgabe für Kriegseinsätze breitschlagen lässt, mit Foto und Fakten auf Plakaten vorführt. Das ist keine Erpressung, sondern Gewissensschärfung. Gleichwohl: Aggressive Kriegsszenarien wie das aktuelle schüren auch bei Friedensbewegten nicht nur Ohnmachtgefühle und lähmende Bitterkeit. Sie bewirken – zumal bei „unkäuflichen“ Moralisten – ebenso ein Anschwellen unbewusster eigener Gewalttätigkeit. Ex-Grüne wollen dann den „Verrätern“, die in der Partei blieben und fast masochistisch jeden Schritt einer neuen Militärdoktrin mitduldeten, nie und nimmer verzeihen. Anderen fehlt schlicht die Geschichte. Sie wissen einfach nicht, dass ihre vermeintlichen Gegner womöglich mehr friedenspolitisches Engagement hinter sich haben, als sie es im ganzen Leben zu „leisten“ vermögen.

Ich zitiere aus dem Brief eines Mitglieds der Grünen, das mit „hasserfülltem Gegifte“ gebeten wurde, den Treffen einer Friedensgruppe fernzubleiben: „Was ist das für eine Friedensbewegung, die alle zu ihren Feinden erklärt, die nicht die von einigen vorgegebenen Meinungen kritiklos übernehmen? Ich bin seit über 20 Jahren in der Friedensbewegung aktiv, erlebe aber seit einigen Jahren ein Maß an Ausgrenzung und ein Aufbauen von Feindbildern, das mich erschreckt.“ Die Schreiberin spricht dem Afghanistan-Krieg das Etikett „gerecht“ ab und teilt die Glaubwürdigkeitsprüfung der Friedensbewegung für ein „Nein zum Irakkrieg“. Wie sehr viele andere Basisgrünen hat sie seit Ende 2001 unzählige (interne) Initiativen unternommen oder unterstützt, um die Parteispitze an die alte Identität der Partei zu erinnern. Sie hält es für dringlich, „miteinander zu diskutieren und zu streiten (ohne [fairen] Streit kein Friede), ohne erst mal zu schauen wer ist rot, blau, gelb oder grün. Schade, denn eine Friedensbewegung, die quer durch die Bevölkerung verankert ist, bräuchten wir dringend. Dass Wut und Verzweiflung da ist, ob der Politik und den Entwicklungen, das ist mir nicht fremd und ich kann es gut verstehen. Aber wir sollten versuchen, diese Wut und Verzweiflung nicht hin Hass, sondern in Energie umzusetzen, Energie für Aktivitäten für den Frieden. Denn Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. ... Ich werde mich jedenfalls weiter einsetzen für Frieden, Menschenrechte, Freiheit und Demokratie, auch wenn das vielleicht nicht bei allen meinen (früheren) MitstreiterInnen erwünscht ist.“

Menschen wie diese Schreiberin, die sich übrigens als „demokratische Sozialistin“ versteht, sind für mich keine Täter, sondern Opfer. Ich habe vor 20 Jahren – oft noch vor ihrem Parteieintritt – mit ihnen gemeinsam Friedenstransparente getragen. Ich bin nicht bereit, sie mit rigoroser Selbstgerechtigkeit zu Feinden zu erklären. Das Spektrum meiner eigenen friedensbewegten Verbündeten reicht von Mitgliedern aus der CDU bis hin zu engen Freunden aus der DKP. (Das Spektrum der prominenten Anti-Bushisten auf der Erde reicht vom Papst über Jimmy Carter bis hin zu republikanischen Parteigrößen!) Die Friedensbewegung kämpft nicht gegen Grüne oder Sozialdemokraten, weil etwa auch der „Friedenskampf“ einen Nahfeind braucht. Wir stellen uns mit Menschen auf der ganzen Welt gegen ein „unberechenbares“ US-Regime, das nach bundesdeutschen Kategorien als rechtsextrem einzustufen ist, das unter der Marke „Christentum“ dem fundamentalistischen Wahn fixer religiöser Ideen Vorschub leistet, das fast ausnahmslos aus Lobbyisten milliardenschwerer Konzerne besteht, das Bürgerrechte missachtet, das im Ausland foltern lässt, das mit Verbrecherstaaten jeglicher Qualität Allianzen eingeht, das sich außerhalb der internationalen Rechtsstaatlichkeit stellt, das vor offenkundigen Kriegsverbrechen nicht zurückscheut... und nahezu die Hälfte des weltweiten ABC-Massenmordpotentials in seiner Befehlsgewalt hält... Wer sich – auch vor diesem Hintergrund – einem versöhnenden Dialog mit Freunden aus der „alten“ Friedensbewegung versagt, ist weder friedensbewegt, noch hat er den Ernst der Stunde begriffen. Wir brauchen dringend Dialogforen – aber sie müssen jetzt eben öffentlich sein!

Afghanistan – Ein Dialog mit der Friedensbewegung darf nicht mit Alzheimer rechnen

Unsere politische Kultur setzt ein allgemeines Kurzzeitgedächtnis mit der maximalen Reichweite einer Wochenschau voraus. Ein Problem des Dialoges zwischen rot-grünen Parteigängern und Friedensbewegung besteht bekanntlich darin, dass es ohne unzensierte Erinnerung als historisches Gewissen keine Friedensbewegung geben kann. Wie unverbesserlich sind sie doch, die Friedenstauben, die noch heute von Kriegen sprechen, die hundert Jahre zurückliegen! Wie unkritisch wurden die nachgewiesenen Inszenierungen der US-Propagandabüros für den Golfkrieg 1991 allenthalben aufgegriffen. Welch spärliche „Informationen“ genügten vielen Entscheidungsträgern, die Nato-Bomben auf Serbien heilig zu sprechen! (Die Zurückhaltung vieler Friedensbewegter beim Bürgerkrieg in Bosnien darf in diesem Zusammenhang natürlich ebenso kritisch angemerkt werden.)

Als im Parlament nach den terroristischen Massenmorden von New York eine bundesdeutsche Beteiligung am US-Angriffskrieg auf Afghanistan zur Abstimmung stand, setzte Bundeskanzler Schröder sozialdemokratische und grüne Dissidenten vor den Augen der gesamten Öffentlichkeit unter unvorstellbaren Druck. Grüne und sozialdemokratische Parlamentarier mit katholischer Konfession hätten dem Nein des Papstes zum Afghanistan-Feldzug folgen können. Andere hatten sich in ihren Wahlkreisen als erprobte „Pazifisten“ angepriesen. Wieder andere prostituierten gegenüber den Medien ihre Gewissenskrupel – folgenlos für das Abstimmungsverhalten. Andere Gewissen wurden offenbar nach mathematischen Berechnungen aufgeteilt. Was der Bundeskanzler hier zuwege gebracht hatte, war nicht weniger als ein verfassungsfeindlicher Angriff auf die demokratische Kultur unseres Landes. Unsere Parlamentarier sind an keine Weisung gebunden und allein ihrem Gewissen verpflichtet. Wer das nicht respektiert, der verhöhnt das Grundgesetz und fördert auch im Parlament jenes rückgratlose Duckmäusertum, das die kranken Parteistrukturen in Deutschland schon lange heranzüchten. Sind Kanzler Schröders Brachialmethoden viel ehrenwerter als die Methode des CIA, Scott Ritter, den ehemaligen Waffeninspekteur im Irak und Kronzeugen wider die Irak-Lüge Nr.1, mit einem inszenierten Sex-Skandal zum Schweigen zu bringen?

Nun höre ich von jenen, die sich ohne tiefgehende Informationen auch zu einem „Ja zum Afghanistan-Krieg“ drängen oder überreden ließen, der Erfolg habe der Sache ja recht gegeben. Wer immer gedankenlos – auch in Parteien, Kirchen oder wo sonst – so daherredet, der soll seine Maßstäbe für Erfolg definieren und sie neben den massenmörderischen Terror der Anschläge von New York stellen: Die endlich mögliche Realisierung eines Angriffskrieges, dessen Pläne schon Mitte 2001 in der Schublade lagen? 6000 unschuldige Zivilisten, die im so genannten Antiterror-Kampf zielgenau durch – faktisch völkerrechtswidrige – Streubomben aus der Luft zerfetzt wurden? 3000 unbewaffnete Taliban, die im Massaker von Mazar offenkundig unter der Auf-Sicht von US-Soldaten abgeschlachtet wurden? (Nach der alsbaldigen Ermordung von zwei Augenzeugen sind die Aussichten auf eine Aufklärung durch die UN noch weiter Richtung Null gesunken.) Vermutlich drogeninduzierte US-Bombardierungen auf eigene Verbündete? US-Militäraktionen, an denen sich französische Soldaten aus „zivilisatorischen“ Gründen nicht beteiligen mochten? Die plötzliche Verwandlung erprobter Mörderbanden, die man Nordallianz nennt, in gute Verbündete? Die Taufe menschenverachtender Regimes reihum zu Hütern der Humanität? Die Installierung eines in der US-Energiewirtschaft ausgebildeten afghanischen Staatschefs? Die freie Bahn für ein schon lange vor dem 11.9. dringlich verhandeltes Pipeline-Projekt? Das Wiederaufblühen der weltweit größten Heroin-Produktion, an der ehrenwerte Geheimdienste mit höchster Wahrscheinlichkeit den größten Profitanteil einstreichen? Eine Verwandlung der afghanischen Verhältnisse außerhalb Kabuls, die sich nur in propagandistischen Berichten, aber leider nicht vor Ort verifizieren lässt?... In der Tat, wer solche Maßstäbe von Erfolg hat, der darf auch weiterhin mit ruhigem Gewissen nachts schlafen, auch wenn er mit seiner Stimme auf Parteitagen und im Parlament jene bundesdeutschen Elitesoldaten nach Afghanistan geschickt hat, von denen hierzulande kein Bürger erfährt, was sie denn dort in der Ferne alles zu leisten hatten, an wen sie ihre Gefangenen – so es sie gibt – übergeben haben... (Ich weiß nur von einem deutschen Militärseelsorger, der in Afghanistan über Nacht weißes Haar bekam.)

Dagegen hält die Friedensbewegung: Die Kriegsverbrechen und der Massenmord an Zivilisten in Afghanistan müssen schonungslos aufgeklärt werden. Die bundesdeutsche Bevölkerung ist aufzuklären, an welchen Einsätzen bundesdeutsche Elitesoldaten dort beteiligt waren und immer noch beteiligt sind. – Und: Ein wirklicher Dialog zwischen Parlament und Friedensbewegung wird in dem Augenblick beginnen, in dem der oder die erste Abgeordnete mutig bekennt: „Es tut mir aufrichtig Leid, dass ich alles, was in Afghanistan bislang geschehen ist, mit meiner Stimme mitverantworte!“ Parlamentarier von solcher Größe ersehnen wir uns!

Am Kriterium lässt sich nicht rütteln:
Ein bloß rhetorisches „Nein“ ist ein Ja zum militärischen Massenmord


Der maßgebliche Grund, warum allerorten Parlamentarier und Parteivertreter den dringend gebotenen Dialog mit der Friedensbewegung in öffentlichen Diskussionsrunden meiden, liegt indessen vermutlich im Blick auf die allernächste Zukunft. Ich zitierte bereits einen resignierten Sozialdemokraten: „Jetzt nach den Landtagswahlen wird Schröder das Nein zum Irakkrieg Stück für Stück relativieren.“ Nun ist dieses „Nein“ – im Sinne von Matthäus 5,37 und für jedermann erkennbar – zu keinem Zeitpunkt wirklich ein „Nein“ gewesen! Überdies ist die ganze Perversion und moralische Verkommenheit bundesdeutscher Politik daran abzulesen, dass die Kriegsdebatte mit äußerst wenigen Ausnahmen fast durchgehend als Wahlkampfspektakel mit innenpolitischem Focus geführt wird. Die Parteisprecher, die wie Wolfgang Thierse beim Thema Irak von Menschen reden, sind an einer Hand abzählbar. In diesem Kontext ist innerhalb der Friedensbewegung die gänzlich unpazifistische Parole „Kein Friede mit Rot-Grün!“ entstanden.

Ich gehöre zu den Anhängern dessen, was ein Sprecher des Friedensratschlages mit Blick auf kriegsbejahende Parteien, Parlamentarier und Journalisten als „Resozialisierungsgedanken“ bezeichnet hat. Wer sich einmal vom Lügenapparat des Krieges einlullen ließ, für den ist jeder Augenblick der richtige, umzukehren. Wer von uns wollte danach anhaltend die Fehltritte der Vergangenheit aufrechnen? Moralismus solcher Art hätte mit Friedensbewegtheit nichts gemeinsam! Wenn Opposition und Medien die Regierung wegen ihres „Nein zum Irakkrieg“ angreifen, dann sagt die Friedensbewegung selbstverständlich: „Wir stehen hinter diesem Nein!“ Doch für den Weg der friedlichen Resozialisierung brauchen wir eine einfache, klare Übereinkunft: „Ein Nein muss ein Nein sein! Beihilfe zum Massenmord ist Massenmord!“ Mit bis zu 300.000 unmittelbaren Kriegsopfern – doppelt so viele wie beim Golfkrieg 1991 – ist nach UNO-Schätzungen bei einem Angriff auf den Irak zu „rechnen“. Wer bitte möchte da kühl taktieren?

Die Glaubwürdigkeitskriterien der Friedensbewegung sind hinreichend formuliert:
  1. Die Bundesregierung soll sich – allein oder mit anderen europäischen Partnern – aktiv im UNO-Sicherheitsrat dafür einsetzen, dass der angekündigte und lang vorbereitete massenmörderische Angriffskrieg gegen den Irak nicht stattfindet.
  2. Nein – nicht unentschiedene Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat!
  3. Im Falle eines Irakkrieges sind den USA und Großbritannien alle Überflugsrechte und die Nutzung von Militärbasen und Flughäfen auf deutschem Kriegsgebiet für die Kriegsführung zu untersagen.
  4. Keine bundesdeutsche AWACS-Beteiligung im globalen Kontext eines Irakkrieges. Jede verschleierte Unterstützung eines Angriffskrieges ist verfassungs- und völkerrechtswidrig!
  5. Alle in der Golfregion befindlichen Bundeswehrtruppen, Waffen, ABC-Fuchs-Panzer müssen zurückgezogen werden!
  6. Keine Patriotraketen für die Region. Sofortiges Ende der skandalösen bundesdeutschen Rüstungsexporte in den Nahen und Mittleren Osten, mit deren Absegnung die rot-grüne Koalition das eigene Regierungsprogramm öffentlich zur wertlosen Makulatur erklärt hat. (Unter Rot-Grün haben sich die deutschen Rüstungsexporte insgesamt verdreifacht!)
  7. Keine deutschen Ersatzsoldaten für Army-Angehörige, die in den Krieg geschickt werden. Ausnahmslos jede und jeder ist eingeladen, das zu verteidigen, was nach dem letzten Weltkrieg die einzige Aussicht auf eine Zukunft der menschlichen Zivilisation bot. Herzlich willkommen in der weltweiten Bewegung für das Menschenrecht auf Leben. Herzlich willkommen in der derzeit größten Verfassungsschutzbewegung unseres Landes: „Handlungen, die geeignet sind... das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“ (Artikel 26 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland) „Wer einen Angriffskrieg, an dem die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein soll, vorbereitet ..., wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft.“ (§ 80 Strafgesetzbuch) Wir werden die Verfassung ohne Unterlass zitieren!

Glaubwürdige Bündnisse, Friedensbewegung und Massenbewegung

Egon Bahr und Helmut Schmidt haben hinlänglich deutlich gemacht, dass das dumpf-emotionale Gerede von „Freundschaft“ gänzlich unangebracht ist, wenn es um brutale Fakten der internationalen Machtordnung geht. Die Zeit, in der die bloße Anti-Terror-Propaganda und ein globales Angstmach-Programm jeden Schritt hin zu der bereits von Bush senior propagierten „neuen Weltordnung“ hinreichend legitimierte, ist vorbei. Viele Menschen verstehen endlich, dass die völkerrechtlichen Prinzipien der UN-Charta gerade auch dann ins Grab kommen, wenn die derzeit mächtigste Regierung auf der Erde sich einen ihr genehmen UN-Sicherheitsratsbeschluss für einen Angriffskrieg erzwingt und erkauft. Immer mehr Menschen sehen klar, dass auch die Frage atomarer Bedrohung kein Relikt aus dem „kalten Krieg“ ist, da zur Stunde die USA und Großbritannien mit dem „präventiven“ Ersteinsatz nuklearer Waffen drohen. Immer mehr Frauen und Männer erinnern sich, dass Kriege keine Naturkatastrophen sind, sondern gemacht werden, und dass es eine Alternative zur Rolle als passiver TV-Zuschauer oder Ja-Sager angesichts der geplanten Massenmordspektakel gibt. Zumindest mit den Kirchen und vielen Gewerkschaftsgliederungen steht die weltweite Friedensbewegung inzwischen auf einer noch breiteren Basis. Die Globalisierungskritiker verfolgen mit großer Erdung und ohne ideologische Utopien ein Friedensprogramm für eine andere, weniger grausame und weniger ungerechte Welt. Dieses Spektrum ist glaubwürdig. Es wird nicht von kurzfristigen Angst-Attacken oder nationalen Motiven bewegt, sondern von Vernunft, substantiellem Humanismus, religiösem Ernst und aufrichtiger „Moral“. Es ist die Allianz all derer, die das in 30 Artikeln entfaltete Wort von der einen Menschheitsfamilie in der Menschenrechtsdeklaration von 1948 an keiner Stelle zynisch relativieren. Mitglieder der Grünen und der SPD gehören ebenso dazu wie unzählige Menschen in den USA.

Anders als in den 80er Jahren ist auch eine neue Massenbewegung für den Frieden heute nur auf einer solchen Grundlage glaubwürdig. Zweckbündnisse ohne eine leibhaftige innere Gemeinschaft und Gemeinsamkeit von Menschen sind schlicht wertlos. Das bedeutet: Ohne breite gesellschaftliche Bewegungen und neue soziale Modelle keine Friedensbewegung. Ohne eine moralische Gegenbewegung zur allmächtigen Ökonomie der Macher und Weltbesitzer keine Friedensbewegung. Ohne attraktive Alternativen zum propagierten Konkurrenzdogma der Gesellschaft keine Friedensbewegung. Ohne eine erneuerte Kontrastbewegung zu den korrupten Strukturen real existierender Politik keine Friedensbewegung. Ohne menschliche Verbundenheit in örtlichen und überregionalen Netzwerken keine Friedensbewegung. Leute, die ihre Ego-Suppe kochen und auf politisch-strategische Vorteilnahme blicken, sind dabei schlicht unbrauchbar! Kein neuer Wein in alte Schläuche!


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