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"Kleiner Friedensratschlag" in Kassel: Gute Beteiligung und intensive Beratungen

Friedensbewegung wird Aktivitäten gegen drohende Kriegsgefahr verstärken. Weitere Vernetzung vereinbart

Von Peter Strutynski

Über 70 Vertreterinnen und Vertreter von lokalen und regionalen Friedensinitiativen und Bündnissen aus ganz Deutschland trafen sich am Sonntag auf Einladung des Bundesausschusses Friedensratschlag zu einer eintägigen Friedenskonferenz in Kassel. Anlass für das kurzfristig einberufene Treffen waren die in den letzten Tagen und Wochen sich zuspitzende Gewalteskalation in Syrien sowie der anhaltende internationale Druck auf Iran auf der einen Seite und die allseits als schmerzlich empfundene gegenwärtige Handlungsschwäche der Friedensbewegung auf der anderen Seite. Dem Ernst der Lage entsprechend war die Veranstaltung vom Willen geprägt, offene Fragen zu klären und Ansatzpunkte für gemeinsames Handeln zu erarbeiten.

Die Referentin und die Referenten haben dazu die entscheidenden Vorlagen geliefert, indem sie die drei inhaltlichen Blöcke der Konferenz ("Neuordnung der Neuen Weltordnung", "Worum geht es in Iran wirklich?" und zur Situation in und um Syrien) mit fundierten Analysen eingeleitet haben.

Den Anfang machte Dr. Erhard Crome von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der die gegenwärtigen Gewaltauseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten in die strategische Neupositionierung der „Global Player“ einbettete. In einem historischen Rückblick wies er zunächst auf die Kontinuität ungebrochener imperialistischer Hegemonieansprüche der Großmächte, insbesondere der USA und der ihnen verbundenen westlichen Mächte, hin, um sodann die veränderten Rahmenbedingungen imperialer Machtentfaltung nach dem Ende der Bipolarität und dem überraschenden Aufbruch der arabischen Welt zu benennen. Die offenkundigen Niederlagen der USA in Afghanistan und Irak (der eine Krieg konnte militärisch nicht gewonnen, der andere politisch nicht erfolgreich abgeschlossen werden) haben unter Obama zu einer Umorientierung der Kriegführung hin zum unbemannten Drohnen- und verlustarmen Luftkrieg geführt – mit zu erwartendem weiteren Imageverlust des einstigen „Hoffnungsträgers“ nicht nur in den betroffenen Regionen, sondern in der ganzen Welt. Die Wirtschafts- und Finanzkrise zwingt die ehemals einzige Weltmacht zur Umschichtung, möglicherweise sogar zur Reduzierung der Militärausgaben. Die „tektonischen Verschiebungen“ der Weltwirtschaft verschieben auch die weltpolitischen Koordinaten in Richtung Asien (mit Blick vor allem auf China). Mit den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) treten neue Akteure auf die Bühne der Weltpolitik, die dem unipolaren Anspruch der USA das Konzept einer multipolaren Weltordnung entgegensetzen. In der Diskussion wurde zusätzlich auf die jüngste Entwicklung in Lateinamerika hingewiesen, wo gerade an diesem Wochenende mit der Gründung des Staatenbundes CELAC eine Art Gegenmodell zur Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) geschaffen wurde. Der OAS gehörten die USA und Kanada an, CELAC verzichtet auf die nordamerikanischen Staaten, hat stattdessen aber Kuba (das 1962 auf Betreiben Washingtons von der OAS ausgeschlossen war) aufgenommen. Die arabischen Revolten 2011 haben nicht nur den eigenen Regimen, sondern auch ihren westlichen Vormündern vor Augen geführt, dass die Völker nicht mehr so wollen, wie man es von ihnen verlangt – auch wenn das Ergebnis des „arabischen Frühlings“ historisch noch längst nicht in trockenen Tüchern ist.

Von den einstigen "Schurkenstaaten" sind heute in der Region noch der Iran und Syrien übrig geblieben, nachdem sich der Irak und Libyen erledigt haben bzw. erledigt wurden. Sie sind jetzt an der Reihe, wobei allerdings aus Sicht der westlichen Hegemonialmacht USA ein paar Schwierigkeiten auftauchen: Einmal sind regionale Mächte wie die Türkei und Saudi-Arabien mit eigenen Interessen, die nicht deckungsgleich mit denen der USA sind, an den Konflikten beteiligt, und zum anderen tritt mit Russland (Militärstützpunkt an der syrischen Mittelmeerküste!) eine überregionale Macht mit weltpolitischen Ambitionen auf den Plan. Mit dieser komplizierten Konfliktkonstellation hängt schließlich die Gefahr der Ausweitung eines möglichen Krieges zusammen – gleichgültig ob er gegen Syrien oder Iran beginnt, wobei ersteres derzeit wahrscheinlicher ist: "Der Weg nach Teheran führt über Damaskus".

Prof. Dr. Mohssen Massarrat, emeritierter Politikwissenschaftler der Uni Osnabrück, widmete sich dem seit Jahren andauernden Konflikt (des Westens) mit dem Iran. Auch die in diesem Jahr bisher durchgeführten Gesprächsrunden (in Istanbul, Bagdad und Moskau) hätten den Konflikt nicht entschärfen können. Der Westen halte unbeirrt an seiner Maximalforderung fest, der Iran müsse die Urananreicherung beenden. Solange das nicht geschieht, werden die Wirtschaftssanktionen gnadenlos fortgesetzt und – über das vom UN-Sicherheitsrat verhängte Maß hinaus – ausgedehnt. Die Sanktionspolitik hinterlässt bereits tiefe Spuren in der iranischen Wirtschaft: Der Mittelstand und die Landwirtschaft gingen allmählich "den Bach runter"; in der Folge verschlechtere sich die soziale Lage der Bevölkerung. Die iranische Atompolitik, die nach Auffassung Massarrats zum Ziel hat, die technologische Fähigkeit Teherans zum Bau der Atombombe zu erreichen – eine "logische Strategie" angesichts des regionalen Atomwaffenmonopols Israels – sei dennoch nur ein Vorwand für die antiiranische Politik der Vereinigten Staaten. Ginge es beispielsweise „nur“ um die Sicherheit Israels, dann gäbe es durchaus andere Wege, sie herzustellen, etwa die Aufnahme Israels in die NATO. Das sei indessen nicht so einfach, weil sich die NATO damit das Problem eines Mitgliedsstaates als einer Besatzungsmacht (Westjordanland) einhandeln würde. (Zur „Bedrohung“ Israels vgl. ausführlich den vor kurzem erschienen Beitrag von M. Massarrat: Ist Israels Existenz bedroht?, in Ossietzky 14/2012.) In Wirklichkeit gehe es den USA darum, über die Aufrechterhaltung des Dollars als Leitwährung ihren Status als Welthegemonialmacht zu sichern. Andere Instrumente der Vergangenheit hätten schließlich ihre Wirksamkeit eingebüßt (z.B. das über Jahrzehnte von den USA diktierte Ölpreisregime; mit dem wachsenden Öldurst Chinas, Indiens und anderer Schwellenländer, sei der Ölpreis nicht mehr niedrig zu halten). Der Dollar als Leitwährung sichere den USA so etwas wie eine "Hegemonialrente".

Der Friedensbewegung empfahl Mohssen Massarrat, die Kampagne gegen die Panzerexporte nach Saudi-Arabien (aber auch in andere Nahost-Staaten) weiter zu führen (ein entsprechendes Transparent des gastgebenden Kasseler Friedensforums schmückte eine Wand des Konferenzsaals), zweitens, wo es geht, israelisch-iranische Arbeitskreise zu bilden und drittens sich stärker für die Idee einer von Massenvernichtungswaffen freien Zone im Nahen/Mittleren Osten einzusetzen. Hierzu berichtete Inge Höger, MdB Die Linke, in der Diskussion aus einem Unterausschuss des Bundestags, dass die ursprünglich für den Herbst d.J. geplante UN-Konferenz leider auf unbestimmte Zeit verschoben wurde.

Prof. Dr. Karin Kulow, Arabistin und Jahrzehnte lang mit der Region bestens vertraut, referierte über die sich zuspitzende Lage in Syrien. Nachdem es in der Region in der Vergangenheit fünf Kriege gegeben hatte, die alle zwischen Israel und arabischen Ländern stattfanden, droht nun ein "neuartiger" Krieg, der sozusagen „von innen heraus“ entsteht. Allerdings wäre dieses Bild unvollständig, wenn man die äußeren Einflüsse nicht auch erwähnen würde. Karin Kulow berichtete darüber, dass syrische Rebelleneinheiten zum Teil im Kosovo trainiert würden, von türkischem Territorium aus in den syrischen Raum hinein operierten und dass mit zahlreichen Terroranschlägen die Lage im Land zunehmend destabilisiert würde. Die verstärkte Desertion von Soldaten und die gezielte Abwerbung von höheren Armeeangehörigen soll offenbar zur Demoralisierung der Regierungstruppen beitragen. So gesehen war der 6-Punkte-Plan Kofi Annans von Anfang an äußerst gefährdet. In den letzten Wochen habe die Gewalt – trotz des im April verkündeten Waffenstillstands – ständig zugenommen. So gesehen, seien das Zustandekommen der "Aktionsgruppe" und deren Genfer Konferenz am 30. Juni ein positives Signal, wenngleich die dort entworfenen "Leitlinien" Syrien faktisch in ein Mandatsgebiet verwandelt würden.

Die Auseinandersetzung in und um Syrien beschrieb Karin Kulow schließlich auch vor dem Hintergrund sowohl der Öl- und Absatzinteressen der Großmächte (besonders der USA) als auch des seit Jahrzehnten zunehmenden Konflikts zwischen dem arabischen Nationalismus und dem politischen Islam. Die in sich sehr heterogene Opposition im Syrien werde deshalb nicht zufällig unterstützt von Katar und Saudi-Arabien sowie der Türkei, deren regierende AKP ebenfalls dem politischen Islam zugeordnet werden kann. Was die Rolle Russlands in dem Konflikt um Syrien angeht, warf Karin Kulow die interessante Frage auf, ob der 1982 zwischen Syrien und der Sowjetunion geschlossene Freundschaftsvertrag, der auch eine Beistandskomponente enthält, heute noch in vollem Umfang in Kraft sei.

Der abschließende Block zur Handlungsfähigkeit der Friedensbewegung in der Syrien- und Iranfrage wurde eingeleitet von einem kurzen Bericht von Hans-Georg Klee von der Münchner Regionalgruppe des Internationalen Versöhnungsbundes. In München war es gelungen, ein relativ breites Bündnis gegen den Krieg gegen Iran zusammen zu bringen – mit prominenten ErstunterzeichnerInnen aus dem Kultur-, Medien und Wissenschaftsbereich. Das Internet (facebook etc.) bringt es mit sich, dass ein regionaler Aufruf plötzlich auch Unterstützung aus ganz anderen Ecken der Republik erhält, was aber auch nichts schadet. (Hier geht es zum "Münchner Aufruf".) Natürlich käme es jetzt darauf an, mit dem Aufruf in die Öffentlichkeit zu gehen. Hierzu müssten erst noch Erfahrungen gesammelt werden. Ein positiver Nebeneffekt sei auch gewesen, dass die Münchner Friedensszene wieder zusammengefunden habe.

In der anschließenden Diskussion wurden Essentials zusammengetragen, welche in der Kampagne gegen die drohende Kriegsgefahr im Nahen/Mittleren Osten zu beachten sind. In Bezug auf die Atomfrage wurde einerseits darauf hingewiesen, dass man dem Iran nicht die Rechte verwehren könne, die allen anderen Staaten gemäß dem Atomwaffensperrvertrag auch zustehen, nämlich das Recht auf die Entwicklung der "zivilen" Kernenergie einschließlich der Urananreicherung (Art. IV des Vertrags). Das internationale Recht muss für alle Staaten gelten. Auf der anderen Seite müsse die Friedensbewegung darauf hinweisen, dass die Trennung von "ziviler" und "militärischer" Nutzung der Kernkraft nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Die "zivile" Nutzung sei geradezu die Voraussetzung auch jeder möglichen oder tatsächlichen militärischen Nutzung. Fukushima hat darüber hinaus gelehrt, dass die lang anhaltenden Strahlenfolgen einer Katastrophe in einem Kernkraftwerk ähnlich verheerend wirken wie die einer Atombombenexplosion. So wäre es natürlich wünschenswert, wenn der Iran sich von der nuklearen Option verabschieden würde. Es kann aber von uns aus nicht „verlangt“ werden; ein solches Verlangen würde auf eine faktische Unterstützung der Erpressungspolitik des Westens hinauslaufen.

Eine schwierige Situation gibt es für die Friedensbewegung auch in der Frage des richtigen Umgangs mit der Syrien-Frage. Für die Friedensbewegung gibt es keinerlei Grund, sich mit irgendeinem Regime gemein zu machen. Im Gegenteil, eine authentische Friedensbewegung zeichnet sich dadurch aus, dass sie von Regierungen und ihren Institutionen unabhängig ist und sich von niemandem vereinnahmen lässt. Dies gilt selbstverständlich auch für die Opposition in einem innerstaatlichen Konflikt. Im Falle Syriens kämpft die Friedensbewegung einerseits gegen das ideologische Sperrfeuer der Mainstream-Medien hier zu Lande, die Gift und Galle gegen das "blutrünstige" Assad-Regime speien und sich ganz auf die Seite "der" Opposition stellen; andererseits sollte sie sich der Einflüsterungen erwehren, eine wie auch immer geartete syrische "Revolution" zu unterstützen oder gar zu "adoptieren" und einer Legitimität des bewaffneten Kampfes gegen die Assad-Regierung das Wort zu reden. Demgegenüber wurde vielmehr der Standpunkt betont, Solidarität mit den Menschen in Syrien zu üben. Dies tut man am besten dadurch, dass man sich gegen jegliche Intervention von außen wendet, humanitäre Hilfe leistet (Medikamente etc.), für den Verbleib von syrischen Flüchtlingen bei uns eintritt und – vor allem – gegen jegliche Waffenlieferungen nach Syrien und in andere Staaten der Region kämpft. Alle Konfliktparteien in Syrien sollen aufgefordert werden, das Blutvergießen sofort einzustellen und sich an einer friedlichen Lösung des Konfliktes zu beteiligen. Schließlich müssten auch die ruinösen Sanktionen gegen Syrien (und gegen den Iran) beendet werden. Nicht nur weil sie ohnehin nicht das Regime, sondern in erster Linie die Bevölkerung treffen, sondern auch weil im Sanktionsmechanismus immer auch eine Eskalationsschraube angelegt ist, an der weiter gedreht wird, wenn die Forderungen nicht erfüllt werden, um schließlich einer militärischen Intervention von außen den Weg zu bereiten.

Die Friedensbewegung, so waren sich am Ende alle einig, ist gut beraten, wenn sie die Themen Iran und Syrien in ihrem Zusammenhang sieht. Der vom Westen ersehnte Sturz des unbotmäßigen iranischen Regimes erscheint nur erreichbar, wenn in Syrien interveniert wird. (Ein überraschender Angriff Israels auf iranische Atomanlagen kann zwar auch davor geschehen. Experten halten ihn vor den Präsidentenwahlen in den USA am 6. November 2012 aber für eher unwahrscheinlich.) Einig waren sich auch alle darin, dass die bisher vorliegenden Aufrufe aus der Friedensbewegung sowie das breite Informationsangebot etwa der Website der AG Friedensforschung eine ausreichende Basis für die weitere Arbeit seien. Am Ende herrschte Einigkeit auch darin, dass die Konferenz alle Erwartungen übertroffen hat: Auf dieser Basis können der weitere Austausch und die engere Vernetzung der bestehenden Friedensinitiativen und –organisationen von unten erfolgen.


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