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Obamas Afghanistan-Strategie - eine weitere amerikanische Tragödie / Obama's Afghan "Strategy" - Another American Tragedy

Friedensbewegung in den USA kritisiert den Friedensobelpreisträger

Der Protest gegen den Afghanistan-Krieg wird lauter: nicht nur hier zu Lande, sondern auch im "Mutterland des Krieges", in den USA.
Im Folgenden einen Artikel über die Kritik der US-Friedensbewegung an der neuen Afghanistan-Strategie des Präsidenten Obama und einen Artikel aus der Feder eines US-Aktivisten sowie zwei Artikel über die Auseinandersetzung in Deutschland.


Die Enttäuschten setzen Zeichen

Friedensbewegung in den USA kritisiert den Friedensobelpreisträger

Von Max Böhnel, New York *

Das Schild, das Diane Brzywczy in den stockdunklen kalten Abend reckt, enthält nur das eine Wort »Disappointed!«. Die USA-Friedensbewegung ist tief enttäuscht über Präsident Obama.

In einer halben Stunde wird Obama, der sich - von Sicherheitsbeamten bewacht - einen Steinwurf entfernt vermutlich gerade seine Krawatte zurechtbindet, seine Afghanistan-Rede halten. »Es reicht«, sagt die 61-jährige Diane Brzywczy, »diese sogenannten Antiterrorkriege haben mehr Opfer gekostet als die Terroranschläge zusammen.« Brzywczy stammt aus Highland Falls, einem 3700-Seelen-Örtchen, zwei Fahrstunden nördlich von New York.

Zeit, den Sticker abzukratzen

Die Straße führt direkt zum Haupteingang der abgeschotteten Militärakademie West Point. Dorthin marschiert Diane zusammen mit 300 weiteren Angehörigen diverser Friedens- und Antikriegsgruppen aus der Region, »um ein Zeichen zu setzen«, wie sie sagt. Alle Altersgruppen sind vertreten, wenngleich die ältere Generation um die 60 und darüber dominiert. »Get out now«, Abzug jetzt, rufen einige, »jobs, not bombs« heißt es auf einem Transparent.

Die Demonstranten machen nach einem Kilometer Halt vor dem Eingangstor, wo sich ein Dutzend »Army Guards« aufgebaut hat. Doch die Uniformierten reagieren nicht auf die Frage, die ihnen im Chor entgegenschallt: »Willst du in Afghanistan sterben?« Nach ein paar Minuten löst sich die Menge auf. »Zeit, den Obama-Sticker an meinem Auto abzukratzen«, sagt Diane und rollt ihr Poster ein.

Demonstrationen wie die vom Dienstagabend (1. Dez.) in West Point fanden zeitgleich an zwei Dutzend US-amerikanischen Orten statt, an Straßenkreuzungen und Plätzen, vor den Büros von Abgeordneten und Senatoren. Die Botschaft, die von den Friedensgruppen verbreitet werden sollte, war einheitlich: keine Truppenaufstockung in Afghanistan, umgehender Abzug. Tausende riefen vor der Obama-Rede auf Vorschlag der Friedensbewegung beim Weißen Haus an, um Obama zu »bitten, den Generälen nicht zu folgen«. Doch die angekündigte »Afghanistan escalation« ist nur die allerneueste Enttäuschung. Der kalifornische Alt-68er Tom Hayden fasste in der Zeitschrift »The Nation« die Haltung vieler Obama-Anhänger zur Rede vor den Militärkadetten in West Point so zusammen: »Sein Hin und Her bei der Zustimmung zum Militärcoup in Honduras hat das Vertrauen Lateinamerikas erschüttert. Die Auszahlung der Wall Street überlässt die Armen, die Arbeitslosen, die Minderheiten und Studenten sich selbst. Und jetzt kommt die Entscheidung, in Afghanistan und Pakistan zu eskalieren. Das erschüttert seine Innenpolitik, seine demokratische Parteibasis und möglicherweise seine eigene Präsidentschaft.«

Etwa zwei Drittel der Anhänger der Demokraten stellen Umfragen zufolge den Afghanistan-Krieg in Frage. Ob Obamas »neue« Strategie die Skepsis abbaut, muss sich erst noch zeigen. Unklar ist ebenso, ob sich in der Öffentlichkeit allgemein ein Umschwung zugunsten des Präsidenten ergibt. Die Zustimmung zum Einsatz in Afghanistan ist von 90 Prozent nach den 9/11-Terroranschlägen auf 45 Prozent im November dieses Jahres gesunken. Madelyn Hoffman, Leiterin der Antikriegsorganisation »Peace Action« im Bundesstaat New Jersey, sagte gegenüber ND, große Teile der Bevölkerung seien wegen dieser Skepsis »empfänglich für unsere Argumente«. Die Zahl jener Friedensbewegten, die zum Afghanistankrieg nur eine abwartende Haltung eingenommen haben, sei geschrumpft. Viele, die die Invasion am Hindukusch im Oktober 2001 als »gerechten Krieg« befürwortet hätten, seien inzwischen besorgt wegen der hohen Kosten. Vor allem aber werde der Krieg als nicht gewinnbar eingestuft.

Tatsächlich veröffentlichten in jüngster Vergangenheit alle großen Friedensverbände der USA eindeutige Stellungnahmen gegen eine Truppenaufstockung und Aufrufe zum Rückzug. Meinungsunterschiede bestehen bezüglich des Verfahrens und der Fristen eines Rückzugs. Die Feministinnen von »Code Pink«, die im September aus Afghanistan zurückkehrten, warnen vor einem »Machtvakuum«, das ein sofortiger Rückzug von NATO-Truppen hinterlasse und das afghanische Kriegsfürsten und Fundamentalisten nutzen würden, um die Rechte von Frauen weiter zu beschneiden. Madelyn Hoffman entgegnet: »Die Ironie ist, dass der Krieg nie wegen afghanischer Frauen geführt wurde. Die Bush-Regierung behauptete das aus PR-Gründen, das klang sehr humanitär.« Natürlich müssten afghanische Frauen geschützt werden. »Aber eine US-amerikanische Truppenpräsenz wird das nicht gewährleisten.«

Wer wird Kennedys Nachfolger?

Die Stimmung angesichts der Politik Obamas entwickelt wird sich an zwei Barometern ablesen lassen. Am 8. Dezember entscheiden die Demokraten im Bundesstaat Massachusetts parteiintern in Vorwahlen, wer als Nachfolger für den verstorbenen Senator Edward Kennedy aufgestellt werden soll. In Umfragen führen drei Kandidaten, die sich gegen eine Truppenverstärkung ausgesprochen haben. Zwei Tage später will Barack Obama in Oslo den Friedensnobelpreis entgegennehmen. Wenn bei dieser Gelegenheit Tausende gegen ihn demonstrieren, würde die Friedensbewegung in den USA davon profitieren. Denn in diesem Fall könnten auch die hiesigen Medien heimische Proteste von links gegen den Präsidenten nicht mehr ignorieren.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Dezember 2009


Obama's Afghan "Strategy" - Another American Tragedy

by Joseph Gerson **

Shortly after President Obama's Afghanistan War escalation speech, I was contacted by the Voice of America's Russian Language Service. They wanted to interview me. These are the questions they asked: What do you think about Obama's new strategy for Afghanistan? Were you surprised by it? Do you think it would be possible to carry out all Obama's objectives by 2011? Would Afghanistan, you think, cease to being a failed state?

Weighted down by a sense of the tragic implications of the speech, I answered as follows:

How could we be surprised? During the 2008 election campaign candidate Obama repeatedly and unknowingly said that the Afghanistan war is a "good war." Back then that was the politically expedient thing to do, and many of his supporters who were rightfully outraged by the damage wrought by Bush and Cheney simply ignored what he was saying.

Now he's stuck with that commitment, whether he believes in it or not. Politically, given the power of the Pentagon and the military-industrial complex, as well as widespread cultural assumptions of U.S. dominance, he has not been in a good position to reverse course, as Vice President Biden reportedly urged. It should, however, be noted that President Obama ruled out General McCrystal's 80,000+ troop increase option from the beginning. Obama has sought a middle way between powerfully contending forces - including the U.S. peace movement. It won't work

Obama's so-called "strategy" means years of tragedy and lost opportunities for generations of Afghans, U.S. Americans, and people of many other countries. It is Bush-lite with enormous negative consequences to follow. Think about the jobs that won't be created here in the U.S., they money lost to investment in health care, our children's educations, and building the 21st century infrastructure needed for the U.S. to complete economically with rising and less belligerent powers.

President Obama's strategy, as Russians should know from prior experience, can't possibly succeed.

While the President denied comparisons to Vietnam, his approach mirrors that of Vietnam era Secretary of Defense Robert McNamara and Presidents Johnson and Nixon: "coercive diplomacy." The mistaken "logic" underlining the contradictions of massively increasing the number of U.S. warriors sent to Afghanistan with the vague commitment to begin some withdrawals in late 2011 is to increase his bargaining leverage with the Taliban, Obama wants to augment U.S. power and influence in Afghanistan before the U.S. approves Karzai negotiations with the Taliban or publicly begins them on its own.

In fact, back channel U.S. discussions with the Taliban are widely reported in Europe, and the United States' British and German allies have encouraged Karzai to enter into a process initiated by the Saudis.

Unfortunately, like LBJ and Nixon, Obama's approach won't work. With its extraordinary corruption, its reliance on repressive and misogynist warlords, and the deaths and suffering of civilians caused by U.S.-NATO attacks, Afghan hearts and minds will not rally to the Karzai government or to U.S. occupation forces. Similar to the failures of "Vietnamization" in the early 1970s, the idea that the U.S. will be able to triple the size of the Afghan military, isolate it from corrupting warlord and Karzai government influences, and provide it with élan and modern warfighting capabilities in just two years is a deadly pipe dream. So too is his plan to vastly increase the size of and professionalize the Afghan police.

Note too that President Obama's pledge to begin reductions of U.S. forces in Afghanistan in late 2011 was very vague. At best, we will likely see a minimal reduction of forces in the months leading up to the 2012 presidential and congressional elections. There remains, however, the possibility of further increases in U.S. forces as the war continues to go south.

The most obvious flaw in Obama's so-called strategy is the impossibility of the U.S. transforming Afghanistan's corrupt and failing government into a modern functioning state. Here too the similarities with Vietnam, where the U.S. imposed and supported a series of corrupt dictators, is striking. The question that President Obama failed to answer was what happens when Karzai, the warlords on whom his power depends, and his corrupt allies refuse click their heals, salute and kowtow to the U.S. plan? It seems unlikely that we'd assassinate them like Vietnam's President Diem. But, if a U.S. victory in Afghanistan is so "vital to U.S. interests", would the U.S. simply withdraw its troops and leave in defeat when Karzai and company continue to make matters worse?

This leads us to a situation analogous to that described in the Pentagon Papers in which 85% of the reason for continuing the war, and even escalating it, will be "perception", to defend the image of the U.S. as a military superpower that must not be challenged.

Like the U.S. in Vietnam and the Soviet Union in Afghanistan, this is a strategy that will bleed the foundations of prosperity within the U.S. and is global reputation and influence. And all the while, people are asking "If Al Qaeda isn't in Afghanistan, why are we?"

Societies are not changed in two years or even in a single generation. The way forward is not manufacturing false unity for the President's nationally self-destructive plan. Rather, it is time to demand that the U.S. press for all party negotiations in Afghanistan to create a new Afghan social contract. This would need to be reinforced by an international conference and actions by all of the major states involved in the war in order to help build and support that social contract. This, of course, also means addressing Indian-Pakistani tensions, the power of Pakistan's ISI, and the geostrategic interests and ambitions of the major powers who have insisted on playing, and losing, the "Great Game."

** Dr. Joseph Gerson is Director of Programs and Director of the Peace and Economic Security Program of the American Friends Service Committee in New England


Deutliche Mehrheit für den Rückzug

Von Christian Klemm ***

Die Friedensbewegung in Deutschland hat ihre eigene Umfrage zum Afghanistan-Krieg organisiert: 95 Prozent der Befragten stimmten dabei für den Abzug der Bundeswehr vom Hindukusch.

Heute steht die Verlängerung des Bundeswehrmandats für Afghanistan auf der Tagesordnung des Bundestags. Die Friedensbewegung hat davor ihre eigene Abstimmung durchgeführt: In 66 deutschen Innenstädten wurden etwa 16 200 Stimmzettel eingesammelt. Jetzt liegt das Ergebnis vor: Rund 95 Prozent der Befragten sprechen sich gegen eine Mandatsverlängerung aus; nur 900 Personen befürworten die Bundeswehrmission am Hindukusch. Allein in Berlin wurden mehr als 5000 Zettel in die provisorischen Urnen geworfen. Das Ergebnis lag in der Hauptstadt zwischen 94 und 96 Prozent und war damit genauso deutlich wie der Bundesdurchschnitt, wie Laura von Wimmersperg von der »Friedenskoordination Berlin« mitteilte.

Seit Jahren gibt es in Meinungsumfragen klare Mehrheiten für den Abzug der Bundeswehr. Erst im Juli hatten sich 69 Prozent der Deutschen für einen schnellstmöglichen Rückzug der Truppe ausgesprochen. Die Abgeordneten im Bundestag aber beachten den Mehrheitswillen der Bevölkerung nicht. Voraussichtlich auch dieses Jahr nicht - obwohl ein Erfolg des Kriegseinsatzes bisher ausgeblieben ist, wie Frank Skischus vom Bundesausschuss Friedensratschlag gegenüber ND betonte.

Doch die Friedensaktivisten wollen die Ignoranz der Parlamentarier nicht so ohne Weiteres hinnehmen. Für heute (3. Dez.) ist eine Kundgebung am Brandenburger Tor unter dem Motto: »Gebt dem Frieden eine Chance - Truppen raus aus Afghanistan« geplant. Und am Wochenende findet der Friedenspolitische Ratschlag in Kassel statt. Auch dort ist der Krieg in Afghanistan ein Schwerpunktthema.

Die Aufstockung der US-amerikanischen Truppen um weitere 30 000 Soldaten kritisiert die Friedensbewegung scharf. »Wer glaubt, mit einer vorübergehenden Verschärfung des Krieges den Widerstand brechen zu können, hat die afghanische Wirklichkeit nicht erfasst«, sagte der Politikwissenschaftler Peter Strutynski gestern.

*** Aus: Neues Deutschland, 3. Dezember 2009


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