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Verzicht auf Raketenabwehr mit Abrüstung verbinden

Rede von Regina Hagen beim Ostermarsch Frankfurt 2001

Gestern nachmittag war ich im Kino. Ich schaute mir den Film "Thirteen Days" an. Er beschreibt den Ablauf der Kuba-Krise von 1962 aus Sicht der Kennedy-Regierung. Im Oktober 1962 erfuhr Präsident Kennedy durch Aufnahmen eines U2-Aufklärungsflugzeugs, daß die Sowjetunion dabei war, auf Kuba atomwaffenfähige Mittelstreckenraketen des Typs SS-4 zu stationieren. Die Vorwarnzeit der USA bei einem sowjetischen Angriff auf Washington hätte dann nur noch fünf Minuten betragen. Zwar stellten die Russen damit nur ein Patt her - amerikanische Thor- und Jupiter-Raketen in Schottland und der Türkei sowie auf Sizilien hatten schließlich auch nur eine kurze Flugzeit bis Moskau. So wollten die USA das strategische Gleichgewicht aber nun doch nicht verstanden wissen. Das US-Militär war bereit, zur Abwehr dieser Gefahr einen Atomkrieg zu riskieren. Nur die Besonnenheit einiger amerikanischer und russischer Spitzenpolitiker verhinderte damals die nukleare Eskalation und ermöglichte einen diplomatischen Kompromiß.

Heute, 39 Jahre nach der Kuba-Krise, ist die Gefahr durch Atomraketen noch keineswegs gebannt. Mehr als 20.000 amerikanische und russische Atomwaffen sowie die der anderen Atomwaffenstaaten bedrohen noch immer die Menschheit. Etwa 5.000 davon werden in ständiger Einsatzbereitschaft gehalten.

Die NATO hat in ihrem neuen strategischen Konzept den Atomwaffen erneut eine wichtige Rolle zugewiesen und nicht auf den Ersteinsatz verzichtet. Rußland hat als Antwort auf die NATO-Osterweiterung zum ersten Mal in seiner Geschichte den Ersteinsatz in seine Militärdoktorin aufgenommen. China modernisiert sein nukleares Raketenarsenal. Indien und Pakistan sind inzwischen in den nuklearen Club aufgestiegen und arbeiten an immer weiter reichenden Trägerraketen. Israel schweigt sich über seine 200 Atomwaffen offiziell aus, verfügt aber offiziell über die nötige Trägertechnologie. Großbritannien hält Trident-Raketen mit Atomwaffen auf U-Booten einsatzbereit. Und Frankreich modernisiert seine nuklear ausgerüstete force de frappe - übrigens nicht zuletzt mit Aufträgen an Tochterfirmen des europäischen Rüstungskonzerns EADS, an dem Daimler-Benz einen beträchtlichen Anteil hält.

In dieser Situation, die geprägt ist von gegenseitiger Bedrohung und der Möglichkeit, die ganze Menschheit zu vernichten, haben die USA unmißverständlich klargemacht, daß sie für sich eine Sonderrolle beanspruchen. Unverwundbar wollen sie werden. "Raketenabwehr", missile defense, ist das Stichwort. Pläne der Regierung Clinton, Raketen, die US-Territorium bedrohen, mit einem "nationalen" System abzuwehren, sind seit der Übernahme der Regierung Bush hinfällig. George Bush und sein der Kalten-Krieg-Mentalität verhaftetes Kabinett, allen voran der ehemalige und neue Verteidigungsminister Rumsfeld, haben Größeres vor. Sie wollen nicht nur US-Territorium sondern auch in Übersee - also beispielsweise in Südkorea oder Deutschland - stationierte Truppen, ihre Freunde und die Verbündeten der USA vor einem Raketenangriff schützen. Beinahe ein Dutzend unterschiedlicher Systeme, die von der Flugabwehr bis zur Stationierung von Laserkampfstationen im Weltraum reichen, sind in Planung, Entwicklung, Erprobung oder sogar schon stationiert.

Im Sommer 1998 machte Donald Rumsfeld in einem ersten Kommissionsbericht vor allem eine Gefährdung der USA durch Raketen sogenannter "Schurkenstaaten" aus. Die Kommissionsempfehlung, zum Schutz der Nation eine Raketenabwehr aufzubauen, führten binnen kurzer Zeit zu einem Kongreßbeschluß, die den US-Präsidenten dazu verpflichtet, "sobald technisch machbar" eine nationale Raketenabwehr zu installieren. Vor wenigen Wochen, im Januar 2001, veröffentlichte eine zweite Rumsfeld-Kommission eine neue Gefahrenanalyse. Nun sind die USA nicht nur durch Raketen auf irdische Ziele sondern auch durch feindliche Angriffe auf amerikanische Weltraumtechnologie bedroht. Das Bild eines "Pearl Harbor im Weltraum" wird heraufbeschworen. Die Lösung ist für die amerikanischen Falken offensichtlich: die Ausweitung der Raketenabwehrpläne und die Entwicklung von Weltraumwaffen. Das ist der falsche Ansatz. Wenn Raketen eine Bedrohung darstellen, muß die Bedrohung beseitigt, nicht durch ein neues Waffensystem eingedämmt werden. Wenn Atom- und andere Massenvernichtungswaffen die Menschheit bedrohen, müssen diese vernichtet und nicht durch eine neue Rüstungsspirale verstärkt werden. Die richtige Antwort auf die Gefahr sind Abrüstung und Nichtverbreitung, Diplomatie und nicht-militärische Konfliktlösung. Nicht neue Rüstungsprogramme sondern die Beseitigung von ballistischen Raketen und Atomwaffen machen unsere Welt sicherer. Dafür gibt es übrigens ein gutes Beispiel: Durch Verhandlungen mit Nord-Korea erreichten die USA vor einigen Jahren, daß das Land ein einseitiges Moratorium, d.h. einen Verzicht, auf weitere Raketenstarts aussprach. Ohne Tests gibt es aber keine zuverlässigen Raketen, und ohne Raketen gibt es keine Bedrohung. Präsident Bush hat Nord-Korea aber wieder zum Schurken hochgestuft und die Gespräche abgebrochen.

Ob es die von Rumsfeld wahrgenommene Bedrohung wirklich gibt, ist mehr als fraglich. Die technische Machbarkeit von Raketenabwehr scheint in weiter Ferne. Warum also die ganze Aufregung. Weil schon die Entscheidung für Raketenabwehrsysteme und Weltraumwaffen zu einem neuen Wettrüsten führt, das diesmal nicht auf die Erde beschränkt bleibt sondern in den Weltraum ausgeweitet wird.

Und welche Rolle spielt die deutsche Regierung in diesem Spiel? Keine gute! Nach anfänglicher - und gut begründeter - Ablehnung des geplanten US-Systems kam Kanzler Schröder im Februar zum Schluß, daß Deutschland seinen Partner USA wohl nicht umstimmen könne und daher wenigstens die technologische und wirtschaftliche Teilhabe am geplanten Raketenabwehrschild einfordern müsse. Dazu sagen wir nein. Einige Menschen und Gruppen haben daher Ende März eine bundesweite Initiative gegründet, die sich unter dem Motto "Raketen abrüsten statt abwehren!" mit einem Appell an die Bundesregierung wendet. Der Appell hat folgenden Wortlaut:
"Ich fordere die Bundesregierung auf, jede Beteiligung an einem Raketenabwehr-system abzulehnen und die Regierungen der USA und Europas zum Verzicht darauf zu bewegen. Statt durch ein kostspieliges Rüstungsprogramm eine neue Rüstungs-spirale auf der Erde und im Weltraum auszulösen, fordere ich politische Initiativen, die zur umfassenden Abrüstung von Raketen und Atomwaffen führen."

Im Gefühl von Unverwundbarkeit, unter dem Schutz von Raketenabwehrsystemen würden die USA - und in ihrem Gefolge die europäischen Verbündeten - noch weniger Hemmungen als bisher haben, weltweit und unter dem Deckmantel humanitären Eingreifens nach Gutdünken militärisch zu intervenieren - zur Sicherung ihrer Interessen und der Rohstofflieferungen.

Das dürfen wir nicht zulassen. "Raketen abrüsten statt abwehren!" - diese Forderung muß den Regierungen vieltausendfach entgegenschallen. "Raketen abrüsten statt abwehren!" - unterschreibt den Appell und unterstützt die Initiative. Ihr könnt das übrigens auch online tun, über www.ippnw.de. Ich wünsche uns allen eine raketen- und atomwaffenfreie Zukunft!

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