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Menschenrechte verwirklichen - Rüstungsexporte stoppen!

Rede von Jürgen Grässlin beim Ostermarsch 2001 in Münster

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,
wir haben uns heute zusammengefunden, um auf dramatische Fehlentwicklungen in aller Welt sowie auf entscheidende Fehlsteuerungen der Politik der vorigen und der heutigen Bundesregierung aufmerksam zu machen. Wir haben uns aber auch zusammengefunden, um unseren Forderungen nach einer sozial gerechteren, einer ökologisch intakteren und vor allem einer friedlicheren Welt Nachdruck zu verleihen.

Auf der Erde toben derzeit rund 40 Kriege und Bürgerkriege, die Millionen von Toten fordern. Nur einige wenige von ihnen haben in den industrialisierten Staaten, gerade auch in Deutschland, zu heftigen Diskussionen um so genannte "humanitäre Militärinterventionen" zur Wahrung der Menschenrechte geführt. Vor allem die Beteiligung der Bundeswehr am völkerrechtswidrigen NATO-Kampfeinsatz im Kosovo - der wohlgemerkt ohne UNO-Mandat erfolgt ist -hat zu Kontroversen in der SPD, den Kirchen, Gewerkschaften geführt. Mit ihrem Meinungsumschwung haben sich Bündnis 90/DIE GRÜNEN von einer antimilitaristischen Oppositionspartei zu einer militär- und rüstungsbefürwortenden Regierungspartei entwickelt.

Ich bin der Meinung: Menschenrechte können nicht herbeigebombt werden. Aus diesem Grund habe ich meinen Parteiaustritt aus den GRÜNEN erklärt.

Mit ihrer mehrheitlich erteilten Zustimmung konnte die unter Bundeskanzler Kohl und Verteidigungsminister Rühe eingeleitete Umstrukturierung der Bundeswehr von einer Verteidigungs- in eine Angriffsarmee unter Bundeskanzler Schröder, Verteidigungsminister Scharping und Außenminister Fischer vollendet werden.

Heute zeigt sich dreierlei:
  1. Die Umstrukturierung der Bundeswehr war und ist ein aktiver Beitrag zur Kriegsführung.
  2. Der völkerrechtswidrige Kampfeinsatz im Kosovo konnte seitens der Bundesregierung nur durch eine Vielzahl verfälschter Darstellungen und offensichtlicher Lügen - z.B. Scharpings "Hufeisenplan" - durchgesetzt werden. Genau aus diesem Grund unterstützte ich die Kampagne der Friedensinitiative Nottuln zur Einrichtung eines "Untersuchungsausschusses zum Krieg in Jugoslawien".
  3. Menschenrechte lassen sich nicht mit militärischen Mitteln erzwingen - weder in Tschetschenien noch im Kosovo! Denn Gewalt erzeugt neue Gegengewalt.

Mit ihrem vorgetäuschten Anspruch, global "Frieden und Menschenrechte" mit militärischen Mitteln durchsetzen zu wollen, befürworten die NATO-Staaten - allen voran die USA - Militäreinsätze in aller Welt. Wohin diese so genannten "humanitären Interventionen" führen, hat sich bereits 1993/1994 beim UNOSOM II-Einsatz in Somalia gezeigt. Militärs von NATO- und Nicht-NATO-Staaten versuchten, so ihre Begründung, den Menschen in Somalia zu helfen, die unter dem grausamen Bürgerkrieg im Land zu leiden hatten. 1700 Bundeswehrsoldaten eines Nachschub- und Transportbataillons sollten eine indische Brigade versorgen. Da nur 3 indische Soldaten eintrafen, grub die Bundeswehr in Belet Huen Brunnen und errichtete ein Feldlazarett. Die beträchtliche Mititärpräsenz der US-Army erklärte sich vor allem auf Grund der riesigen Erdölreserven, die in Somalia vermutet wurden. US-Erdölkonzerne hatten sich die Förderrechte für weite Teile des Landes gesichert.

Wie wenig das Menschenrechtsargument in Wirklichkeit eine Rolle spielt, zeigt sich im Fall rohstoffarmer Länder, wie dem Sudan. Dort tobt seit Jahrzehnten ein von der UNO und der NATO unbeachteter Bürgerkrieg.

Was hat das alles mit dem Thema "Rüstungsexporte" zu tun? In Somalia existiert keine einzige Waffenfabrikationsanlage. Ausnahmslos alle Waffen sind importiert worden. Im Handfeuerwaffenbereich handelt es sich dabei vor allem um das M16-Gewehr der Amerikaner, die Kalashnikow der Russen oder Chinesen, die UZI der Israelis, die FN FAL der Belgier und das G3-Gewehr der Deutschen. Mit diesen Maschinenpistolen und Schnellfeuergewehren führen verfeindete Clans seit Jahrzehnten Krieg gegeneinander. Neun von zehn Opfern dieses und anderer Kriege - in der Militärsprache "Weichziel" oder "Kollateralschaden" genannt - sind Zivilistinnen und Zivilisten: Kinder, Frauen, alte Menschen. Die Profiteure dieses und anderer Kriege aber sind die Rüstungsproduzenten und -exporteure in den Industrieländern.
In den Jahren 1995 bis 1999 handelte sich dabei um:
  • USA: 53 Mrd $; Ständiges Mitglied Sicherheitsrat VN
  • Russland: 14 Mrd $; Ständiges Mitglied Sicherheitsrat VN
  • Frankreich: 11 Mrd $; Ständiges Mitglied Sicherheitsrat VN
  • Großbritannien: 7 Mrd $; St. Mitglied Sicherheitsrat VN
  • Deutschland: 6 Mrd $; Mitglied VN
  • China: 2 Mrd $; Ständiges Mitglied Sicherheitsrat VN
(Quelle: SIPRI Yearbook 2000, p. 372)

Mit anderen Worten: Die Hälfte aller Waffen, die weltweit bei Kriegen und Bürgerkriegen zum Einsatz kommen, stammt aus der Produktion US-amerikanischer Rüstungskonzerne.

Spätestens an dieser Stelle zeigt sich die Verlogenheit der so genannten "Menschenrechtspolitik" der Staaten, die als Ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat darüber entscheiden, wo eine Militärintervention zugunsten der "Menschenrechte" stattfindet - und wo nicht. Bei ihren Kampfeinsätzen sammeln ihre Militärs genau die Waffen ein, die ihre Rüstungsindustrie zuvor gegen teures Geld geliefert hat. Denn 85 Prozent der Rüstungsexporte erfolgen durch amerikanische, russische, französische, britische und chinesische Waffenschmieden.

Wenigstens in diesem Sinne gäbe es ein durchaus ernst zu nehmendes Argument, auch die BR Deutschland in den UN-Sicherheitsrat aufzunehmen: Dann nämlich würden die sechs Ständigen Mitglieder mehr als 90 Prozent des Weltwaffenhandels bestimmen.

Gerade Handfeuerwaffen sind diejenigen Waffensysteme, die denen die meisten Menschen verstümmelt oder ermordet werden. Am meisten verbreitet sind dabei die Kalashnikow. Auf Platz 4 der "Exportschlager" im Handfeuerwaffenbereich rangiert das deutsche G3-Gewehr mit rund 7 Millionen Exemplaren, mit denen bis heute weltweit gemordet wird. Kaum ein Krieg oder Bürgerkrieg findet ohne G3-Gewehre oder MP5-Maschinenpistolen von Heckler & Koch aus Oberndorf am Neckar statt. In der Regel schießen die verfeindeten Armeen oder Guerillaeinheiten oder Clans mit exakt den gleichen Waffen aufeinander. Dabei müssen nicht alle G3-Gewehre aus der Oberndorfer Produktion stammen: Denn im Handfeuerwaffenbereich sind wir Deutschen Weltmeister! Lizenzen gingen z.B. an:
  • Portugal, 1961 (G3A2, G3A3, G3A4)
  • Pakistan, 1963 (G3A3, G3P4)
  • Schweden, 1964 (G3 [Ak4])
  • Norwegen, 1967 (G3A4)
  • Iran, 1967 (G3A6)
  • Türkei, 1967 (G3A7 [G3A3, G3A4])
  • Saudi-Arabien, 1969 (G3)
  • Großbritannien, 1970 (G3, verschiedene Modelle)
  • Frankreich, 1970 (G3)
  • Thailand, 1971 (G3)
  • Griechenland, 1977 (G3A3, G3A4)
  • Mexiko, 1979 (G3A3, G3A4)
  • Birma (Myanmar), 1981 (G3, lokal modif.)
(Quelle: J. Grässlin, RIB-Archiv)

Keine anderes Land hat derart viele Lizenzen vergeben, wie die BR Deutschland. Diese Rüstungsexportpolitik ist verwerflich und inhuman! Wer - wie die CDU-CSU-SPD-FDP-geführten Bundesregierungen - in den 60er, 70er und 80er Jahren den Lizenzvergaben zugestimmt hat, der trägt massive Mitschuld am millionenfachen Morden mit G3-Gewehren in aller Welt! Direktexporte und Lizenzvergaben sind aktive Beihilfe zum Völkermord in Staaten Afrikas, Lateinamerikas oder Asiens!

In der Türkei tobt seit Jahren ein tödlicher Bürgerkrieg. Er ist Ursache für die Flucht von Hunderttausenden von Menschen. Dieser Fakt ist keine Überraschung, denn wer Waffen sät, wird Flüchtlinge ernten.

Bereits im Januar 1993 habe ich mit Freundinnen und Freunden der Friedens- und Menschenrechtsbewegung Strafanzeige wegen Beihilfe zum Völkermord durch Rüstungsexporte in die Türkei gestellt. Wir begründeten damals unsere Strafanzeige mit folgenden Argumenten, ich zitiere:
"Mitten in Europa herrscht Krieg - doch niemand sieht hin." (Vorwort der Broschüre zur Strafanzeige)
"Eine Zurückweisung der Strafanzeige wäre ein weiterer Beweis für die Doppelmoral der deutschen Politik und Gerichtsbarkeit, die von internationaler Geltung der Menschenrechte... spricht, aber gleichzeitig die eigenen Kriegsverbrecher ungestraft weiter Beihilfe zum Völkermord am kurdischen Volk leisten lässt." (Vorwort der Broschüre zur Strafanzeige)
"Die deutsche Wirtschaft ist bereit immer wieder aufs Neue zu beweisen, dass sie zugunsten des eigenen Profits in Kauf nimmt, über Leichen zu gehen."
(Stellungnahme der Pressekonferenz vom 26. Februar 1993 über die "Strafanzeige wegen Beihilfe zum Völkermord")

Unsere Forderungen lauteten damals:
"Beendigung der Unterstützung von Völkermord und Kriegsverbrechen am kurdischen Volk! Keine weiteren Rüstungsexporte in die Türkei! Stoppt die Rüstungsproduktion!" (Stellungnahme zur Pressekonferenz vom 26. Februar 1993 über die "Strafanzeige wegen Beihilfe zum Völkermord")

Alle diese Aussagen stammen von Angelika Beer, damals Mitglied im Bundesvorstand der GRÜNEN. Sie haben bis heute nichts an ihrer Gültigkeit verloren. Heute sind SPD und GRÜNE an der Regierung. Viele von uns haben sie am 27. September 1998 gewählt, weil sie uns versprochen haben, die menschenverachtende Rüstungsexportpolitik zu beenden. Ich selbst war 1994 und 1998 Bundestagskandidat der GRÜNEN.

Mit den neuen "Politischen Grundsätzen" für den Kriegswaffenexport vom Januar 2000 schien der Durchbruch geschafft. Seither heißt es: "Der Beachtung der Menschenrechte im Bestimmungs- und Endverbleibsland wird bei den Entscheidungen über Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern besonderes Gewicht beigemessen."
Weiter: "Der Export von Kriegswaffen wird nicht genehmigt, es sei denn, dass im Einzelfall besondere außen- und sicherheitspolitische Interessen der Bundesrepublik Deutschland unter Berücksichtigung der Bündnisinteressen für eine ausnahmsweise zu erteilende Genehmigung sprechen."

Was so schön klingt, hat sich längst als Seifenblase entpuppt. Denn der Nachsatz der "ausnahmsweise zu erteilenden Genehmigung" entwickelt sich zusehends zum Türöffner. Waffen für Bosnien, Kroatien, Israel, Saudi-Arabien oder Indonesien sind nach dieser Definition auch zukünftig möglich - vor allem dank der SPD, ihrem rüstungskonformen Kanzler sowie den Lobbyisten im Verteidigungs- und Wirtschaftsministerium.

Sprengstoff pur bergen geplante Panzer-, Hubschrauber- und Gewehrlieferungen an die Türkei, zugleich NATO-Partner und einer der schlimmsten Menschenrechtsverletzer weltweit. Dem türkischen Militär fehlt derzeit das Geld, die 1000 Leopard-II-Panzer "Made in Germany" zu ordern.

Die Zahlen des Rüstungsexportberichts von 1999 sprechen für sich: Unter Rot-Grün verdoppelte sich die Zahl deutscher Rüstungsexporte von 1997 auf 1999, wobei diesmal noch Altlasten der Regierung Kohl mitgerechnet werden. Die Türkei - nach wie vor Krisen- und Kriegsgebiet - liegt mit Waffentransfers in Höhe von rund 1,9 Milliarden DM mit deutlichem Abstand an erster Stelle der Empfängerländer. Die Sachlage als solche aber hat sich verschärft: Unter Rot-Grün morden mehr deutsche Waffen und deutsches Geld in aller Welt!

Mittlerweile hat der Bundessicherheitsrat die Lieferung einer Munitionsfabrik der deutschen Rüstungsfirma Fritz Werner in die Türkei genehmigt. Bundesaußenminister Joschka Fischer hat dagegen votiert und ansonsten geschwiegen. Angelika Beer - mittlerweile Obfrau der GRÜNEN im Verteidigungsausschuss - und ihre Fraktionskolleginnen und -kollegen haben auch diesen Rüstungsexport schulterzuckend akzeptiert.

Unsere Botschaft an die heutige Bundesregierung ist die gleiche, wie die von 1993:
Sollte diese menschenverachtende Rüstungsexportpolitik in die Türkei und an menschenrechtsverletzte Regime nicht gestoppt werden, dann werden wir wieder Strafanzeige stellen müssen - diesmal gegen Rot-Grün. Denn deutsche Munition aus deutschen Gewehrläufen war und ist eine todsichere Form der Beihilfe zum Völkermord an Kurdinnen und Kurden. Weitere Rüstungsexporte an das menschenrechtsverletzende türkische Militär sind geplant, womöglich sogar eine Lizenzvergabe für das neue Gewehr G36 der Oberndorfer Waffenschmiede Heckler & Koch.
Ich möchte euch heute bitten, unsere Resolution gegen das G36 zu unterstützen:
"Seit Jahrzehnten kommen G3-Schnellfeuergewehre der deutschen Waffenfirma Heckler & Koch über Direktexporte und Lizenzproduktionen weltweit zum tödlichen Einsatz in Kriegen und Bürgerkriegen. Das Nachfolgemodell G36 ist bei der Bundeswehr eingeführt. Im Sinne einer vorbeugenden Friedenspolitik fordern wir die Bundesregierung auf, ihre rechtlichen und politischen Mittel auszuschöpfen, um Direktexporte und Lizenzvergaben für das G36-Gewehr zu verhindern."
Denn unsere Werte sind nicht militärischer Machterhalt oder wirtschaftliche Interessen - sondern Toleranz, Mitmenschlichkeit, Humanität und Gerechtigkeit. Unser Ziel ist der Ausstieg aus der Rüstungsproduktion und die Umstellung auf eine sinnvolle zivile Fertigung (Rüstungskonversion).

Wer Frieden schaffen will, muss Frieden organisieren und finanzieren. Den Weg dorthin weist FÜNF FÜR FRIEDEN. Diese internationale Abrüstungsinitiative - unterstützt vom Friedensnobelpreisträger José Ramos-Horta, der DFG-VK, von vielen weiteren Friedensorganisationen und Einzelpersonen - fordert die stufenweise Senkung der Militär- und Rüstungs-haushalte um mindestens fünf Prozent pro Jahr.

Die FÜNF-Dividende benötigen wir für
  • die Beseitigung des Hungers
  • den Erhalt und Ausbau von Bildungs- und Gesundheitssystemen.
  • die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit,
  • Frauenförderprogramme
  • die Sicherung sozialstaatlicher Aufgaben
  • den Abbau der Militärapparate
  • die Umschulung von Soldaten
  • die Rüstungskonversion.
Wir wollen handeln! Helft uns dabei! Unterstützt die internationale Abrüstungsinitiative FÜNF FÜR FRIEDEN!

Von der Bundesregierung fordern wir:
  • Die Verwirklichung der Menschenrechte mit einer glaubwürdigen Menschenrechtspolitik!
  • Die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge - und nicht für Waffen!
  • Den Einsatz für die Opfer von Kriegen ein und nicht für Arbeitsplätze in der deutschen Rüstungsindustrie!
  • Vor allem aber: den Stopp aller Rüstungsexporte!

Jürgen Grässlin ist Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Sprecher der Kritischen AktionärInnen DaimlerChrysler, Mitglied im Vorstand des Rüstungs-Informationsbüro Baden-Württemberg (RIB e.V.)

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