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1960: Start der Außerparlamentarischen Opposition

von Andreas Buro *

Hätte mir vor einem halben Jahrhundert, als wir den ersten Ostermarsch in Norddeutschland vorbereiteten, jemand gesagt, dass daraus die westdeutsche außerparlamentarische Opposition hervorgehen würde, ich hätte wahrscheinlich nicht recht begriffen oder es für Spott gehalten. Der erste 'Ostermarsch gegen Atomwaffen in Ost und West' war alles andere als eine Massenbewegung. In Braunschweig standen wir - 24 Frauen und Männer - zwischen zwei Stützpfeilern der Kirche, deren Pfarrer uns mit bewegenden Worten in die kalte und nebelige Landschaft hinaus schickte. Ich wäre lieber zwischen den Pfeilern stehen geblieben. Damals waren die meisten von uns das Demonstrieren noch nicht gewöhnt. Drei Tage Marsch bei Kälte und Schnee und vielen Anfeindungen. Wir lernten schnell, wie wichtig die Gruppe für unsere psychische Stabilität war.

Der deutsche Quäker Konrad Tempel hatte in England den London-Aldermaston- Marsch der Campaign for Nuclear Disarmament (CND) miterlebt und brachte die Idee nach Deutschland. (Anmerkung der Redaktion: Siehe Titelfoto). Er und seine spätere Frau Helga Stolle arbeiteten bei den Kriegsdienstverweigerern in Hamburg. Da lag es nahe, bei den Schwesterorganisationen der benachbarten Städte für einen gemeinsamen Sternmarsch nach Bergen- Hohne in der Lüneburger Heide, wo die USA ihre Honest John-Raketen stationiert hatten, zu werben. Die Vertreter der pazifistischen Gruppen aus Braunschweig, Bremen, Hamburg, Hannover und Göttingen trafen sich mehrmals in Bergen-Hohne, überlegten die Slogans, unseren Aufruf und unsere grundsätzlichen Prinzipien. Zentral war die Aussage: „Gegen Atomwaffen in West und Ost.“ Für uns gab es keine Friedensbombe!

„Kampf dem Atomtod“: Verordneter Stillstand

In Deutschland des Jahres 1960 Ostermärsche zu veranstalten, das war alles andere als Zuckerschlecken. Es herrschte die hohe Zeit des Kalten Krieges, die auf beiden Seiten verbunden war mit der drohenden Aussage: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich! Da wollte es bei solcher West-Ost-Feindschaft schon etwas heißen, wenn normale Menschen es wagten, gegen Atomwaffen auf beiden Seiten zu protestieren. Zwar hatte es in der zweiten Hälfte der 50er Jahre bereits die Aktion „Kampf dem Atomtod“ gegeben. Die Großorganisationen SPD und Gewerkschaften hatten dabei politisch, finanziell und organisatorisch das Sagen.

Doch 1959 machte die SPD eine Kehrtwendung. Es begab sich nämlich zu der Zeit in Bad Godesberg 1959, dass die SPD ihre Aktion „Kampf dem Atomtod“ abrupt beendete. Herbert Wehner hatte erkannt, die SPD würde niemals an die Regierung kommen, wenn sie sich nicht auf die Adenauer‘sche Politik der Wiederbewaffnung Deutschlands einließe. Über eine große Koalition konnte der Weg zur Macht geebnet werden, wenn nur die größten Stolpersteine beseitigt würden. Einer der größten war die Ablehnung jeglicher Atomwaffen durch die Partei. So wurde der KdA auf allen Ebenen eingestellt. An dieses verlassene Erbe knüpfte der erste Oster-Sternmarsch von 3 bis 4 Tagen nach Bergen-Hohne 1960 an. Mit einer gewissen Berechtigung kann man sagen, die außerparlamentarische Opposition als unabhängige Friedensbewegung wurde auch durch die SPD bewirkt.

1960: Bescheidener Neuanfang in Bergen-Hohne

In Bergen-Hohne trafen die Marschsäulen zusammen. Vom Dach eines VWBusses wurden Reden gehalten. Als H. G. Friedrich, der Vorsitzende unserer Braunschweiger Gruppe der Internationale der Kriegsdienstgegner, auf den Bus stieg, um zu sprechen, versagte ihm vor Tränen der Rührung die Stimme, als er sah, wie viele sich zusammen gefunden hatten. Es waren mehrere Hundert. Heute fände das kaum noch jemand erwähnenswert.

Kriegsdienstverweigerung und Pazifismus waren zu dieser Zeit in der deutschen Gesellschaft marginal. So wurde der erste Ostermarsch von Ost und West, links und rechts mit Häme und Spott überschüttet. Naive Sektierer und idealistische Spinner waren noch die freundlichsten Bezeichnungen. Die Diffamierungsmaschine lief auch schon damals noch auf einer anderen Ebene. Ein Boulevard-Blatt titelte: „Sex auf dem Ostermarsch“. Der Hintergrund: Wir hatten Turnhallen für die Übernachtungen angemietet. Dort nächtigten die MarschteilnehmerInnen gemeinsam. Damals zog solche Diffamierung noch. Heute würde man darüber nur lachen – auch ein deutliches Zeichen für den Wandel gesellschaftlichen Bewusstseins nicht zuletzt durch die bald aufblühenden sozialen Bewegungen.

Das Wunder von Bergen-Hohne geschah jedoch erst ein Jahr später. 1961 fanden bereits in allen Regionen Westdeutschlands Ostermärsche statt. Viele politische und religiöse Gruppen entdeckten den Ostermarsch als eine Möglichkeit, mit vielen auch unterschiedlich Gesinnten gegen Atomwaffen zu protestieren. So konnten damals eigentlich randständige Gruppen von Pazifisten zu einem Fokus werden für die erste von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und anderen Großorganisationen unabhängige außerparlamentarische Opposition. Sie breitete sich nicht nur in Windeseile über die ganze Bundesrepublik aus, arbeitete während des ganzen Jahres und nicht nur zu Ostern, erweiterte ihre Thematik, so dass sie sich später über viele soziale Lernprozesse in die „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“ verwandelte, eine Art Urmutter der „neuen sozialen Bewegungen“. Die Ostermarsch-Kampagne wurde zu einem breiten Bündnis aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus und politischen Lagern. Ihre Zeitschrift, die zunächst 'Informationen zur Abrüstung' hieß, nannte sich dann 'Außerparlamentarische Opposition'.

Ziviler Ungehorsam von unten

Und noch ein Wunder geschah: Sehr viele der sonst so disziplinierten SPDGenossen und Gewerkschaftskollegen konnten nicht begreifen, dass der einst so wichtige Kampf gegen den Atomtod nun etwas Verabscheuungswürdiges sein sollte, das man besser nach „drüben“ zu schicken habe. Sie verweigerten den Herrschern ihrer Apparate in diesem Punkt die Gefolgschaft – so eine Art ziviler Ungehorsam. Das hat uns sehr gefreut, aber auch die unerbittliche Feindschaft von Wehner und anderen Oberen eingetragen, die damals vor keiner Diffamierung zurück schreckten.

Seit Mitte der 1960er Jahre spielte das Thema Vietnam bei den Aktivitäten der Ostermarsch-Kampagne eine zunehmende Rolle. Die Bedeutung des Vietnam- Krieges für die Politisierung der Friedensbewegung kann gar nicht überschätzt werden, wurde doch durch ihn bei vielen das für Demokratie und Menschenrechte stehende Vorbild der USA zutiefst in Frage gestellt. Die Außen- und Militärpolitik der USA und darüber hinaus des „Westens“ wurde unter dem Gesichtspunkt imperialistischer Machtausübung kritisiert und die Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus auf die Tagesordnung gesetzt.

1968 marschierten Ostblock-Staaten in die CSSR ein, was die Zusammenarbeit der heterogenen Teile der Kampagne außerordentlich belastete. Der Mordanschlag auf Rudi Dutschke 1968 verwies auf starke rechte Tendenzen in der Gesellschaft. Themen wie die Notstandsgesetzgebung traten in den Vordergrund. Ende der 1960er Jahre war die Kampagne derart politisiert - auch die StudentInnenbewegung hatte durch ihre Verselbständigung dazu beigetragen - dass sie sich zugunsten vieler Reformprojekte in fast allen gesellschaftlichen Bereichen de facto auflöste. Man wollte die Gesellschaft verändern. In der Zeit der Entspannungspolitik während der Kanzlerschaft von Willy Brandt beschäftigten, soziale, ökologische, entwicklungsund frauenpolitische Probleme die Menschen mehr als die vermeintlich entschärfte Bedrohung durch Atomwaffen und Krieg. Damit war die Rolle der Ostermarsch-Bewegung, der ‚Kampagne für Demokratie und Abrüstung‘ als Kern der neuen sozialen Bewegung und der außerparlamentarischen Opposition beendet. Sie löste sich 1969 auf.

Die Ostermärsche der späteren Zeit hatten und haben einen anderen Charakter. Sie sind eine der vielen Aktionsformen der Friedensbewegung, die sich im Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss in den 80er Jahren wieder voll entfaltete.

Was wurde erreicht?

Was haben diese großen Anstrengungen aus der Zivilgesellschaft heraus bewirkt? Die politischen Entscheidungen der Regierung wurden ja kaum im Sinne der Demonstrierenden verändert.

In der schwierigen politischen Landschaft des Kalten Krieges der 60er Jahre hat die Kampagne große Teile der Bundesrepublik erfassen und eine breite öffentliche Diskussion entfalten können. Viele Menschen wurden ermutigt, öffentlich für ihre friedenspolitische Haltung einzustehen. Die Diskussion über Gewalt und Gewaltfreiheit in der Politik erhielt in den 70er Jahren neue Impulse aus der Auseinandersetzung mit den Gewaltstrategien der RAF. Sie erstreckt sich bis in die Gegenwart, wo insbesondere die Möglichkeiten ziviler Konfliktbearbeitung als Kontrapunkt zum militärischen Austragen von Konflikten im Vordergrund stehen. Viel gelernt wurde im Sinne einer zivilgesellschaftlichen Kompetenz über militärisches Denken und Strategien, aber auch dass man sich wehren kann und dass es möglich ist, viele Menschen in der Gesellschaft zu erreichen. Es war trotz unterschiedlicher Meinungen in einzelnen Fragen möglich, sich in zentralen Punkten zu einigen und gemeinsam koordiniert zu handeln. Die ‚Kampagne‘ erweiterte auch den Boden für die gesellschaftliche Akzeptanz der Kriegsdienstverweigerung. Die Ostermarsch-Bewegung hat vielfältige, lebensbejahende, fröhliche Formen der Demonstration und der Kommunikation entwickelt. Kulturell-politische Veranstaltungen und Lieder spielten eine große Rolle. Sie hat internationale Arbeit intensiv betrieben: Demonstrationen und Redneraustausch über Grenzen hinweg.

In diesem halben Jahrhundert hat die Friedensbewegung sehr unterschiedliche Arbeitsphasen und ein Auf und Ab der Motivation und Beteiligung durchlaufen. Unabhängig davon ist das gesellschaftliche Bewusstsein weit verbreitet, dass die militärischen weltweiten Interventionen eine Politik zum Schaden unseren eigenen Gesellschaft sind. Die Ablehnung der deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan zeigt dies nur allzu deutlich, obwohl vielen BürgerInnen die soziale Frage viel dichter auf den Nägeln brennt.

Inzwischen sind die Märsche zu Ostern ein fester Bestandteil der Protestkultur der Zivilgesellschaft in Deutschland. In zahllosen Kundgebungen und Veranstaltungen um Ostern wie auch während des Jahres werden die jeweils aktuellen Probleme von Krieg und Frieden aufgearbeitet. Das soll auch weiterhin so bleiben.

* Dr. Andreas Buro, emer. Hochschullehrer und Mitorganisator des ersten Ostermarsches, Grävenwiesbach

Aus: FriedensJournal (Zeitung des Bundesausschusses Friedensratschlag), Heft 2, März/April 2010, S. 13/14



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