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Militärische Aufrüstung und soziale Abrüstung

Thesen zum Anti-Kriegs- und Friedenstag 2005

Von Johannes M. Becker*

Eine absurde Lage: Auf der einen Seite wird aufgerüstet, was das Zeug hält (d.h. was die Bevölkerung schluckt), und es wird mit den Säbeln gerasselt. Die Auf- und Umrüstung der Bundeswehr geht weiter, die EU perfektioniert die „Schnelle Eingreiftruppe“ und die „Battle Groups“, baut den A 400M. Die USA drohen unverhohlen mit Interventionen in Iran, in Kuba, in Venezuela. Auf der anderen Seite spielt Sicherheitspolitik, die sich als Friedenspolitik versteht, im laufenden deutschen Wahlkampf so gut wie keine Rolle. ALG II, Ein-Euro-Jobs, die Zerschlagung des öffentlichen Ausbildungs- und Beschäftigungssektors, die Verlotterung der öffentlichen Infrastruktur u.v.m. gehen ungestört weiter – und außer der „Linkspartei“, und auch die eher am Rande, baut niemand im laufenden Wahlkampf die Brücke zwischen diesen Themen.

1. Das Ende des Ost-West-Konfliktes hat das Gesicht Europas verändert – in sozialer wie in sicherheitspolitischer Hinsicht.
Musste das System des Kapitalismus (früher: „soziale“ Marktwirtschaft tituliert) nach 1945 seinen Menschen noch beweisen, dass es besser funktioniere als das benachbarte Konkurrenz-System, so besteht diese Notwendigkeit seit 1989/90 nicht mehr. Der Kapitalismus ist – wie vor 1919/20 - entfesselt. Er hat keine Rücksichten mehr zu nehmen. Der mediale Umgang (und der der herrschenden Politik) mit dem verflossenen „realen Sozialismus“ lässt an diesem kein gutes Haar. Alles wird pauschal für schlecht oder gescheitert erklärt, die Menschen in den dortigen Staaten werden großteils neben ihrem Guthaben auch ihrer Geschichte beraubt, sind entmutigt und fühlen sich marginalisiert (besonders ausgeprägt in den fünf NBL).
Die Entfesselung des Kapitalismus wirkt noch umso stärker, als auch in den Entwicklungsländern fortschrittliche Alternativ-Modelle entweder gescheitert sind oder durch Interventionen von außen, in aller Regel von den dominierenden Staaten des Kapitalismus, zerstört wurden und werden (Chile, Nikaragua, Granada, Portugal...)
Die Informationspolitik über noch existierende oder im Entstehen begriffene Alternativmodelle (Kuba, Venezuela…) ist in aller Regel entstellend.

2. Die Logik ist in allen kapitalistischen Staaten die gleiche: Kapitalismus pur steht auf der Tagesordnung; die „Durchrechnung“ aller Lebensbereiche nach kapitalistischer Effizienz, wird von allen Staaten betrieben, mit nur unwesentlichen Differenzierungen.
Dies geschieht unabhängig von der Couleur der jeweiligen Regierungen – in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland bspw. haben sich die sozialdemokratischen Parteien noch als die besten Verwirklicher, Durchsetzer des Neoliberalismus erwiesen. Ihnen fehlte fast vollständig die Opposition…
Die unmittelbaren Folgen sind Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit und die Verarmung immer größerer Teile der Bevölkerung.

3. Sicherheitspolitisch der beste Ausdruck der neuen Lage sind die Kriege gegen Jugoslawien (1999), Afghanistan (2001) und Irak (2003).
Hier agierte die Führungsmacht des Kapitalismus, die USA, die übrigens 50 Prozent der erdweiten Rüstungsausgaben tätigt, von niemandem eingeengt und völkerrechtswidrig, dies zum Teil unter Mitwirkung ihrer europäischen „Juniorpartner“.

4. Die westeuropäischen Staaten nutzen die neue weltpolitische Lage zu einer „Emanzipation“ besonderen Stils: Sie widersetzen sich dem neuen Unilateralismus, der Einseitigkeit, in der Sicherheitspolitik durch eine verstärkte und nun koordinierte Aufrüstung.
Bis zum Debakel der EU-Staaten im Jugoslawienkrieg 1999 waren diese in ihren koordinierten Rüstungsanstrengungen gleichsam paralysiert durch zwei unterschiedliche Strategien, d.h. durch die Frage, ob die EU sich unter dem Dach der NATO (und damit unter der Dominanz der USA) oder eigenständig, mit Hilfe des Instrumentariums der WEU, militarisieren solle. Sie tut dies nun weitgehend eigenständig.
So wird eine „Schnelle Eingreiftruppe“ von 60.000 Soldaten geschaffen, die EU wird ein erdumspannendes Satellitensystem (Galileo) aufbauen, sie rüstet sich mit einer Flotte von Truppentransportern aus (Airbus 400 M). Sie will hiermit die Option zu Kampfeinsätzen ohne territoriale Begrenzung eröffnen. Eine europäische „Rüstungsagentur“ ist gebildet worden.
Die UNO wie auch die OSZE spielen in der Politikkonzeption auch der EU nur noch eine untergeordnete Rolle.

5. Die Erde wird hierdurch nicht friedlicher, nicht einmal der Zustand des Patts, des mehrfachen over kills, zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes, wird hier nicht wieder hergestellt.
Nun stehen sich zwei konkurrierende kapitalistische Mächte gegenüber, die u.U. um eine Neuaufteilung der Erde und ihrer spärlicher werdenden Ressourcen ringen werden. Das Beispiel Irak spricht Bände. Der deutsche Kanzler hat seinerzeit (2002/03) gesagt: „Nicht jetzt und nicht an der Seite der USA“. Deutsche Interessen werden heute „am Hindukusch“ und gar „weltweit“ (Struck), neuestes Beispiel ist der Sudan, verteidigt.

6. Der Verfassungsentwurf der EU schreibt eine ungeschminkte Militarisierung.
Hierin droht der EU der 25 nun neben einer Verpflichtung zur Aufrüstung auch die Umgehung des einzigen demokratisch legitimierten Organs der EU, des Europa-Parlaments, bei der Entscheidung über Krieg oder Frieden. Das Europäische Parlament wird lediglich regelmäßig „auf dem Laufenden“ gehalten und kann „Anfragen“ stellen. Nicht einmal eine Kontrolle der Außenpolitik des Ministerrates durch den Europäischen Gerichtshof soll die EU-Verfassung ermöglichen.
Die EU will offenbar die Konkurrenz mit den USA offensiv angehen. Es geht um Märkte und um Rohstoffe. Schließlich um politischen Einfluss in der Ersten wie in der Dritten Welt.

7. Was haben Militärische Aufrüstung und soziale Abrüstung miteinander zu tun?
Um Kriege führen zu können, um zumindest die Option hierzu zu haben, müssen zum einen die materiellen Ressourcen bereitgestellt werden, was geschieht durch die Ent“lastung“ der Haushalte von Sozialkosten und durch die Aufrechterhaltung der Rüstungshaushalte.
Zum anderen muss ein politische Klima geschaffen werden, es muss ein Feindbild
  • im Inneren her: die in der „sozialen Hängematte“ liegenden Erwerbslosen, SozialhilfeempfängerInnen etc.
  • wie im Äußeren: „der“ Islam, der internationale „Terror“, die Anti-Globalisierungs-„Chaoten“, die „Volksfront“ aus PDS...
8. Was kann die demokratische und Friedens-Bewegung gegen diese Tendenzen tun?
Gegen die aufgezeigte Politik muss auf der Straße und mit einer parlamentarischen Linksopposition agiert werden. Über die Realität der sozialen Verhältnisse, d.h. die ungemein rasch sich verändernde Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, muss weiter und verstärkt aufgeklärt werden!
Die EU sollte sicherheitspolitische Aufgaben ausschließlich auf supranationale Organisationen (UNO, OSZE) übertragen, sie sollte eine Politik des sozialen Ausgleichs mit der Dritten Welt angehen, d.h. neue terms of trade fixieren, nicht weiter eine Abschottung ihrer Märkte betreiben. Überdies: Jeglicher Rüstungsexport ist sofort zu stoppen!

* PD Dr. Johannes M. Becker, Privatdozent an der Uni Marburg.

Der Beitrag zum Antikriegstag erscheint am 1. September in der Tageszeitung "junge Welt".



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