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Die Friedensbewegung lebt - PR-Desaster für Präsident Bush

Die große Friedensdemonstration in Berlin am 15. Februar 2003 in den Kommentaren und Leitartikeln

Das Presseecho auf die bundesweite Demonstration in Berlin am 15. Februar 2003 war genauso gewaltig wie die Demonstration selbst (vgl. "Meldungen über die Friedensbewegung").
Ausgesprochen interessant fielen auch die Leitartikel und Kommentare in den großen Zeitungen aus, aus denen wir im Folgenden ein paar Auszüge dokumentieren.



Den Leitartikel in der Südeutschen Zeitung verfasste Joachim Käppner. Er warnt - nach einigen lobenden Worten für die neue Friedensbewegung - vor neuerlichem (!) Sektierertum, einer Gefahr, der seiner Meinung nach Attac zu erliegen droht. Bertolt Brecht hat gesagt, das Gedächtnis an frühere Leiden sei erstaunlich kurz – noch geringer sei aber das Vermögen, sich künftige Leiden vorzustellen. An diesem Vermögen indessen hat es Millionen Menschen in Europa, Australien und den USA nicht gefehlt, als sie am Wochenende gegen einen Irak-Feldzug auf die Straße gingen. Sie stellten sich vor, wozu der Krieg führen würde: unzählige Tote auf den Schlachtfeldern, unzählige zivile Opfer, in der Sprache der Militärs „Kollateralschäden“ genannt, eine Existenzkrise des Völkerrechts und der UNO. In Berlin wurden Brechts Worte vor einer halben Million Menschen verlesen. Es war eine der eindrucksvollsten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik, und sie bedeutet nicht weniger, als dass die deutsche Friedensbewegung zurückgekehrt ist. Oder müsste man sagen: wiederauferstanden?
(...) In Deutschland ist dieser Protest auch ein Zeichen der Reife. Hier hatte der Golfkrieg 1991 noch Angstschübe ausgelöst, die manche Partner an der mentalen Verfassung des Verbündeten zweifeln ließen. Nach dem Zivilisationsbruch auf dem Balkan aber und den Terroranschlägen des 11. September hat die deutsche Öffentlichkeit in weiten Teilen akzeptiert, dass militärische Gewalt die ultima ratio sein kann und manchmal sogar sein muss. Wären die Nato-Bomber nicht gestartet, säße Slobodan Milosevic heute noch im Belgrader Präsidentenpalast statt vor dem UN-Tribunal in Den Haag. Ohne Begeisterung zwar, aber doch zustimmend reagieren die Deutschen auf Kriegseinsätze, die der Durchsetzung internationalen Rechts oder der Menschenrechte dienen, also so etwas wie polizeilichen Charakter tragen.
In Deutschland war der Schritt zur Akzeptanz bewaffneter Interventionen naturgemäß ungleich größer als in England oder Frankreich. Krieg, das bedeutete Erinnerung an eigene Schuld und eigenes Leid. Aber gerade eine Gesellschaft, die ihren Frieden mit der Realität militärischer Notwendigkeiten gemacht hat, muss die Logik des Krieges nicht einfach als Realität hinnehmen. Sie kann und soll die Frage stellen: Ist dieser Krieg gegen den Irak notwendig? Solange es keine Beweise gibt, die wirklich ein Ja begründen könnten, ist der Protest der Bürger ein wichtiges Korrektiv der Politik.
Das breite Bündnis, das von Globalisierungsgegnern bis zu christlichen Konservativen reicht, lässt hoffen, dass die neue Friedensbewegung nicht den alten Versuchungen erliegt wie jener der moralisierenden Selbstgerechtigkeit, die ins Sektierertum geführt hatte. Aber es gibt bereits zu denken, welchen Weg etwa „Attac“ nimmt. Diese Organisation hat viel zur theoretischen Unterfütterung des Protestes beigetragen; aber unübersehbar ist dabei aus der geistreichen Kritik des Neoliberalismus eine schlichte, verschwörungstheoretische Politikanalyse („Kein Blut für Öl“) geworden; und diese ist ihrerseits nicht fern von der zweiten Versuchung, dem Antiamerikanismus. Noch aber dominieren diese Kräfte nicht; noch ist es ein Protest um der Sache willen. Um ein letztes Mal Brecht zu zitieren: „Viel ist schon gewonnen, wenn nur einer aufsteht und Nein sagt.“
Süddeutsche Zeitung, 17.02.2003

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Der Kommentar in der Frankfurter Rundschau von Dieter Ostermann fällt weniger belehrend aus. Ostermann widmet sich vor allem der Frage, welche Wirkung die Friedensdemonstration und der diplomatische Widerstand im UN-Sicherheitsrat auf die Politik der USA zeitigen werden.

Und der Widerstand wächst, auch und gerade von unten. Denn jene Millionen Menschen, die da am Wochenende von Berlin bis London, von Melbourne bis New York auf den Straßen waren, sind ja nur die Vorhut einer weltweit um sich greifenden Angst, die weit über Irak hinausgeht. Es ist die Angst, dass die Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts bei komplexen Problemen vorschnell die diplomatischen Waffen streckt und zur militärischen Logik Zuflucht nimmt, nicht als in begründeten Ausnahmefällen allerletztes, sondern als scheinbar einfachstes Mittel.
Wer freilich nicht nur Zeichen des Widerstands setzen will, sondern den Gang der Dinge verändern, für den beginnt die Arbeit erst. Das gilt zunächst im UN-Sicherheitsrat, wo Washington und London schon in den nächsten Tagen einen neuen Resolutionsentwurf einbringen dürften, der den Kriegsautomatismus in Gang setzen könnte. Das Erstaunliche war ja am Freitag nicht so sehr die Haltung der Deutschen, Franzosen, Russen oder Chinesen. Überraschend war vielmehr, wie wenig der amerikanische Druck bislang bei den so genannten Kleinen in dem höchsten UN-Gremium gewirkt hat. (...)
Nun dürfte es Washington nicht bei freundlichen Worten belassen. Wer die widerstrebenden Golf-Araber rekrutiert hat und der Türkei Milliarden für den Aufmarsch einer Nordfront zahlen will, wird Wege finden, auf Staaten einzuwirken, denen an ihrem Verhältnis zur globalen Supermacht gelegen sein muss. (...)
Nicht nur deshalb aber wäre es mehr als verfrüht, die veränderte politische Dynamik der vergangenen Tage als Sieg über Washington zu feiern. Denn wer immer den US-Präsidenten überzeugen will, der friedlichen Entwaffnung Iraks durch Inspektionen eine reale Chance zu geben, der wird an einem Umstand nicht vorbeikommen: dem Eingeständnis, dass es George W. Bush war, dem diese Chance zu verdanken ist. Ohne amerikanischen Druck wäre die Blix-Truppe nicht in Bagdad. Dass es die Inspektionen gibt, dass das irakische Regime des Despoten Saddam Hussein sich seinen internationalen Verpflichtungen nicht länger verweigern konnte, ist das größte außenpolitische Verdienst des US-Präsidenten. Dass dieses Verdienst von Bush nicht als solches empfunden wird, ist Teil des Problems.
Deshalb sollte man es klar benennen: Auch der amerikanische Erfolg, eine friedliche Lösung des Irak-Problems auf den Weg gebracht zu haben, wäre ein Opfer des Krieges. Wenn dem so ist, können und dürfen die weltweiten Warnungen vor einem Militärschlag nicht Antiamerikanismus sein. Das schließt entschiedenen Widerstand gegen die Allmachtsfantasien von Washingtons neokonservativen Weltneuordnern und ihre versteckten Agenden eben nicht aus, sondern kategorisch ein. Richtig ist aber auch, dass auf die USA angewiesen bleibt, wer Saddam Hussein friedlich entwaffnen will. (...)
Frankfurter Rundschau, 17.02.2003

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Zu dem Themenkomplex gab es in der FR noch einen zweiten Kommentar. Stephan Hebel sagt der Friedensbewegung eine gute Zukunft voraus, wenn sie nicht nur "Nein" sagt.

(...) Es war beileibe nicht nur diffuse Kriegsangst, was Millionen auf die Straßen brachte. Es war auch der begründete Eindruck, dass hinter dem verbalen Pathos von George W. Bush und Gefolgschaft zu viel an unausgesprochenen Motiven steckt, als dass ein Krieg auch nur annähernd gerechtfertigt erscheinen könnte.
Quod erat demonstrandum: Es ist ermutigend, dass so viele Menschen sich auf den Weg machten, um sich gegen diesen Krieg zu stellen. Es ist auch verständlich, wenn viele im Gemeinschafts-Erlebnis mit einer halben Million Gleichgesinnter Hoffnung gewannen, ihre Stimme werde bis nach Washington und London durchdringen. Sie sollten allerdings nüchtern bleiben. (...) Hinweise, dass die US-Administration für die Argumente der Demonstranten zugänglich wäre, sind Fehlanzeige angesichts einer Supermacht, die bekanntlich selbst Regierende, die widersprechen, wie aufmüpfige Pennäler behandelt. Zum anderen: Wer am Samstag das Gefühl hatte, "die Friedensbewegung" sei wieder da, muss mit Enttäuschungen rechnen. (...)
Wenn sie nicht wieder 20 Jahre mühsam überwintern will, dann sollte "die Friedensbewegung", in Wahrheit eine vielfarbige Sammlung unterschiedlicher Gruppen, noch intensiver als bisher an Alternativen arbeiten auch zu solchen Militäreinsätzen, deren Unsinnigkeit weniger offensichtlich ist als im jetzigen Fall. Sie muss lernen, mehr zu sagen als ein lautes "Nein". Sie muss sich fragen, ob es Situationen gibt, in denen auch pazifistisch gesonnene Menschen Nothilfe-Aktionen mit militärischem Charakter zustimmen können. Sie muss ihren berechtigten Ruf nach Konflikt-Prävention viel präziser formulieren als bisher. Dann könnte wachsen, wofür eine noch so erfreulich große Demonstration höchstens die Saat legen kann: nachhaltiges zivilgesellschaftliches Wirken für friedliche Konfliktlösung. (...)
Frankfurter Rundschau, 17.02.2003

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Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sprach über Antiamerikanismus, obwohl er keine Rolle spielte. Im Artikel von Mechthild Küpper hieß es u.a.:

Der in der DDR übliche und im Milieu der PDS noch heute kultivierte Antiamerikanismus, der dem der westdeutschen Linken recht ähnlich ist, spielte bei der Demonstration eine erstaunlich geringe Rolle. Man erinnert sich zwar an viele einzelne befremdliche Bilder und Slogans, etwa Stars and Stripes mit der Charakterisierung "Schurkenstaat", man staunte über ungewöhnliche Konstellationen - etwa bei den Berliner Jusos, die "Against Capitalism, against Anti-Semitism" waren - aber anders als bei der Bush-Demonstration prägten sie das Bild nicht. Bischof Huber hatte die in großer Zahl zum Friedensgebet erschienenen Menschen eindringlich vor Selbstgerechtigkeit und Antiamerikanismus gewarnt, und es war offenbar den maßgeblichen Leuten klar, wie delegitimierend eine Großdemonstration zur Unterstützung der deutschen Regierungspolitik wirken würde, die unter antiamerikanischen Bannern liefe. Wie viele Redner berief sich Huber auf die amerikanische Friedensbewegung, mit der man sich einig sei im Bemühen, den Krieg gegen den Irak zu verhindern.
Daß der Trägerkreis nicht einen einzigen Redner eingeladen hatte, der zumindest das Europäische, wenn schon nicht das Internationale des Protests glaubhaft darstellten konnte, sondern sich mit der Rhetorik des Wittenberger Studienleiters Schorlemmer ("Besser, von Donald Rumsfeld verspottet zu werden, als vor sich selber zum Gespött zu werden") und der sicherheitspolitischen Expertise von Funktionären wie Frank Bsirske zufriedengab, gehört wohl zum deutschen Weg: Der Frieden muß todernst sein, von ihm wird nur in gräßlichen Substantiven gesprochen, die - wie Konstantin Wecker es überzeugend belegte - sogar gesungen werden können.
FAZ, 17.02.2003

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In der Berliner Zeitung befasste sich Bettina Vestring mit dem bevorstehenden EU-Sondergipfel. Auch der werde unter dem Eindruck der Massenproteste stehen.

Glücklicher Gerhard Schröder: Genau rechtzeitig zum EU-Sondergipfel an diesem Montag hat der deutsche Bundeskanzler Unterstützung für seinen Irak-Kurs bekommen. Der jüngste Bericht der Waffeninspekteure vor dem UN-Sicherheitsrat hat keinen überzeugenden Kriegsgrund geliefert. Frankreich, der engste Verbündete Berlins in der Anti-Kriegs-Diplomatie, bleibt der gemeinsamen Linie offenbar treu. Und an diesem Wochenende gingen Millionen von Menschen in Deutschland und der restlichen Welt auf die Straße, um gegen die Kriegspläne der USA zu protestieren. Schröder, der schon im Sommer 2002 vor militärischen Abenteuern im Irak warnte, muss sich durch diese Demonstrationen gestärkt fühlen.
Armer Tony Blair: Denn alles, was dem deutschen Bundeskanzler derzeit hilft, schadet dem britischen Premier. Der engste Verbündete der US-Regierung kämpft mit der Öffentlichkeit in seinem Land. In der Hauptstadt London kam es am Samstag zu einer der größten Anti-Kriegs-Demonstrationen der Geschichte. Über 750 000 Menschen zogen durch die Straßen. Sie wandten sich nicht nur gegen den Kriegskurs der Amerikaner, sondern genauso gegen den ihrer eigenen Regierung. Die Beweise für irakische Massenvernichtungswaffen, die Blair bräuchte, um seine Öffentlichkeit zu überzeugen, gibt es bisher nicht. Weder die UN-Inspektoren noch die US-Geheimdienste haben dem irakischen Präsidenten bisher nachweisen können, dass er über biologische, chemische oder gar atomare Waffen verfügt.
Unter diesen Umständen kann es nicht überraschen, dass Schröder den Krisengipfel der EU befürwortete, Blair dagegen ihn am liebsten verhindert hätte. Doch sollten das Glück des einen und das Unglück des anderen eine beschämende Gemeinsamkeit nicht vergessen machen: Dass aus Sicht der Europäischen Union Schröder und Blair gleichermaßen Grund haben, sich für ihre Außenpolitik zu schämen. Denn beide Regierungschefs haben ihren Irak-Kurs ganz allein festgelegt, ohne jede Abstimmung mit der übrigen EU. (...)
Berliner Zeitung, 17.02.2003

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Der Berliner "Tagesspiegel" (Bernd Ulrich) befasst sich auch mit der "Rettung" des Kanzlers durch die Friedensbewegung.

(...) Letzten Sonntag noch war der Kanzler außenpolitisch am Boden, er hatte sich mit seinem allerstriktesten Nein isoliert, beim Rotwein einen Blauhelmplan ausgeplaudert und sich mit seinem außenpolitisch etwas versierteren Außenminister fast überworfen. Diesen Sonntag hingegen wirkte es fast so, als hätten Millionen Menschen nur für ihn demonstriert. Was ist geschehen?
Es fing damit an, dass Gerhard Schröder zum Teilnehmer in einem Viererbund von Kriegsgegnern wurde, zusammen mit Frankreich, Russland und China, drei Vetomächten. Windig zwar, aber nicht nichts. Sodann, am Donnerstag, musste er sich im Bundestag der Opposition stellen. Und wie durch ein Wunder versagte seine christdemokratische Kontrahentin Merkel. Nebenbei versöhnte sich der Kanzler sichtbar mit seinem Vize. Tags drauf, und jetzt wird es wirklich wichtig, obsiegten die Kriegsgegner im Sicherheitsrat. Der französische und der deutsche Außenminister erhielten ganz außerprotokollarischen Beifall, Amerika war geschwächt. Und am Samstag ging dann in Berlin eine halbe Million Menschen auf die Straße, nicht geradewegs für den Kanzler, aber doch zu seinem außenpolitischen Nutzen.
Zufälle spielen bei diesem Stimmungsumschwung eine Rolle, etwa Merkels Versagen. Aber am meisten haben die Amerikaner zur vorläufigen Rettung des Kanzlers und zum Umschwung im Sicherheitsrat beigetragen. Sie verhielten sich so, dass der Irak gar nicht mehr das zentrale Thema war, sondern die Rolle der USA selbst. Und Rumsfeld hatte mit seiner Bemerkung zum alten und neuen Europa nicht nur die europäische Friedensbewegung mobilisiert, sondern auch noch die Chinesen im Sicherheitsrat zu der für ihre Verhältnisse rabiaten Bemerkung provoziert, sie seien auch eine alte Kultur. (...)
Tagesspiegel, 17.02.2003

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In einem anderen Beitrag des "Tagesspiegel" geht es um die zunehmende Entfremdung zwischen den Bush-hörigen Regierungen und der Bevölkerung. Peter Siebenmorgen schreibt u.a.:

Der Widerstand in Europa gegen die amerikanischen Kriegspläne für den Irak begann, als George W. Bush und die Seinen im Frühsommer des vergangenen Jahres ein neues Ziel definierten: Jetzt ging es der US-Administration nicht mehr einfach um die Abrüstung der Massenvernichtungskapazitäten von Saddam Hussein, sondern um einen „Regimewechsel“ im Irak. Je unmissverständlicher die Vereinigten Staaten ihre Kriegsbereitschaft und je unverhohlener sie ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Meinung ihrer Partner und der Vereinten Nationen äußerten, desto schneller wuchs die Ablehnung gegen das amerikanische Vorhaben in der europäischen Bevölkerung. Doch bei den größeren Staaten des alten Kontinents wussten sich nur in Frankreich und Deutschland die kriegsablehnende Mehrheit der Menschen mit ihren Regierungen einig. In Italien, Spanien, vor allem in Britannien dagegen ist die Spaltung zwischen Regierung und Volk seither kontinuierlich größer geworden.
Sichtbarstes Zeichen der voraneilenden Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten waren die vielen Millionen Menschen, die am Wochenende durch die Straßen von Rom, Madrid und London zogen, um ihren Protest zu artikulieren. Und aus der schlichten Ablehnung der Kriegsbereitschaft ihrer Regierungen ist allmählich Zorn und Verbitterung geworden. Schon schreiben die wichtigsten Kommentatoren in den Zeitungen der betroffenen Länder, dass die amerikanischen Kriegspläne tatsächlich den Regimewechsel befördern können: Vielleicht auch in Bagdad – mit immer größer werdender Wahrscheinlichkeit allerdings in Rom, Madrid und London. (...)
Tagesspiegel, 17.02.2003

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Ähnlich sieht es auch die junge Welt. Werner Pirker legt den Akzent auf den Widerspruch zwischen Regierungen und Regierten

Der 15. Februar 2003 war ein Tag, an dem eine historische Zäsur stattfand.. Die Regression im menschlichen Bewußtsein, die postmoderne Akzeptanz des imperialistischen Interventionismus und des Krieges als Daseinsgesetz hat sich nicht durchzusetzen vermocht, die Renaissance der Friedensidee manifestiert sich mit einer Macht, wie man sie vor kurzem noch nicht für möglich gehalten hätte.
Man könnte jetzt einwenden, daß die friedlichen Manifestationen von Millionen und Abermillionen Kriegsgegnern der US-amerikanischen Kriegsmaschinerie wenig anhaben können. Es stimmt schon, daß, wie Marx einmal anmerkte, die Kritik der Waffen mächtiger ist als die Waffe der Kritik. Doch ebenso stimmt, daß das Bewußtsein zur materiellen Kraft werden kann, wenn es die Massen ergreift. Die Friedensbewegung ist über sich hinausgewachsen und zur stärksten Massenbewegung unserer Zeit geworden. Das meint die Bush-Administration zwar ignorieren zu können, doch auf Dauer wird ihre Gewaltpolitik wider den kollektiven Intellekt der Weltbevölkerung mit dem Untergang des imperialen Totalitarismus enden.
So gesehen war der weltweite Protesttag gegen den Irak-Krieg kein bloß symbolischer Akt, kein Verzweiflungsschrei der kollektiven Ohnmacht. Die Millionen in London, Rom und Spanien haben den proamerikanischen Regierungen dieser Länder deutlich gemacht, daß sie gegen das Volk regieren, das heißt, die Demokratie auf der ganzen Linie negieren müssen, wollen sie an ihrem Kriegskurs festhalten. Auch an die Regierungen in Paris und Berlin erging die deutliche Warnung, ihr Nein zum Krieg nicht neu zu interpretieren, gegenüber der US-Macht des Faktischen nicht einzuknicken und alle völkerrechtlichen Mittel auszuschöpfen, den Krieg zu blockieren. Die Menschenmassen - nahe an der Millionengrenze - die die ganze Berliner Innenstadt in Besitz genommen und die Meinung auch der schweigenden Mehrheit zum Ausdruck gebracht haben, werden Schröder beim Wort nehmen. Weicht er seine Position auf, unterschreibt er sein politisches Todesurteil. Er wird er es sich nicht leisten können, die Finanzkrise durch den Transfer von Milliarden Dollar an die amerikanische Kriegskasse noch weiter zu verschärfen.
Darin aber besteht der ganze Sinn amerikanischen Werbens um europäischen Beistand. Die USA können ihren Krieg ohne Ende auf Dauer nicht alleine finanzieren. Welchen Anreiz sollte es aber für »Kerneuropa« geben, Kriege zur Herstellung der totalen US-Hegemonie zu subventionieren? Die Opposition gegen den Krieg ist auch Opposition gegen die soziale Regression. Und sie ist unüberhörbar und unübersehbar geworden.
Junge Welt, 17.02.2003

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Dem Kommentar von Martin Halusa und Alan Posener in der "Welt" ist anzusehen, wie sehr sie darunter leiden, dass Präsident Bush seine Kriegsbotschaft nicht gut genug zu vermitteln vermag. Die Massendemonstrationen des Wochenendes in aller Welt - ein "PR-Desaster" für den Präsidenten eben!

Die Demonstrationen rund um den Globus hatten vor allem einen Adressaten: Amerika und seinen Präsidenten. Die amerikanischen Medien reagierten verhalten. Die "Washington Post" kommentierte jedoch, dass die Zeit nahe sei, gegen Saddam vorzugehen. Auch bei der "New York Times" hieß es in einem Editorial: "Der Sicherheitsrat muss nicht weitere Monate herumsitzen und auf unzureichende Berichte warten. Er braucht die sofortige Entwaffnung des Irak: unterstützt durch die Drohung militärischer Gewalt." Allein die "New York Post" überschüttete die Protestler mit Spott: Sie seien Nihilisten, Marxisten und die üblichen Amerikahasser; man stelle sich nur einmal vor, "wie Saddam mit den Demonstranten umgegangen wäre". Andere Zeitungen enthielten sich der scharfen Kommentierung. Seit den Anti-Vietnam-Krieg-Demos in den siebziger Jahren haben auch die Straßen Amerikas nicht mehr solche Proteste gesehen. (...)
Tatsächlich scheinen die USA in der vergangenen Woche öffentlich in die Defensive geraten zu sein: Im UN-Sicherheitsrat gab es spontan Beifall für den energischen Antikriegsauftritt des französischen Außenministers de Villepin - eine sehr ungewöhnliche Geste im höchsten UN-Gremium. (...)
Wenn das Team im Weißen Haus die Woche Revue passieren lässt, dürfte das Urteil ziemlich vernichtend ausfallen: Amerika hat es nicht geschafft, der Weltöffentlichkeit klar zu machen, was seine Agenda im Irak ist. Ein PR-Desaster, das es Frankreich erlaubt hat, sich als Vorkämpfer einer Friedensachse zu profilieren, das in Deutschland mit einem Raunen von Sonderweg und Multipolarität beantwortet wird und das Amerikas treuesten Verbündeten, Tony Blair, in arge Schwierigkeiten mit der eigenen Partei und Bevölkerung bringt.
(...) George W. Bush hat sich jedoch als ein bemerkenswert überlegter und lernfähiger Präsident erwiesen. Entspräche er der Karikatur, die Europäer von ihm malen, müsste er jetzt das Zeichen zum Angriff geben oder wie weiland der König von Sachsen ausrufen "Macht euren Kram alleene!" und den Franzosen und Deutschen die Entwaffnung Saddams überlassen. Alles spricht dafür, dass er an seinem Plan festhält, die Koalition der Willigen auszuweiten und die Legitimation der UNO doch noch zu erreichen. Nach den Demonstrationen des Wochenendes wird das keine leichte Aufgabe sein.
Die Welt, 17. Februar 2003

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Ralph Bollmann sieht in der taz Anzeichen für eine neue europäische Einigung.

Was sich in den vergangenen Wochen nur in der Form von dürren Umfragezahlen abzeichnete, war am Samstag endlich ganz plastisch zu besichtigen: Während die Regierungen weiter über eine gemeinsame Linie in der Außenpolitik streiten, hat sich unterhalb der politischen Institutionen eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit etabliert. Den Regierungen wird es nach diesem Protestwochenenden schwerer fallen als zuvor, diese Öffentlichkeit zu ignorieren. In einer repräsentativen Demokratie müssen die Regierenden zwar nicht immer tun, was die Mehrheit verlangt. Aber wenn Regierungschefs in der wichtigen Frage von Krieg und Frieden in einen derart krassen Widerspruch zu ihren Wählern begeben wie Blair, Aznar und Berlusconi, dann bekommen sie ein Problem.
In Deutschland ist es die konservative Opposition, die durch die Proteste vom Wochenende mehr noch als bisher ins Schlingern gerät. An der Behauptung, die rot-grüne Regierung habe sich in der Irakfrage völlig isoliert, kann die Union jedenfalls nicht mehr festhalten. Im Gegenteil: Selbst vom britischen Premier sind nach der größten Demonstration in der Geschichte des Landes versöhnlichere Töne zu vernehmen. (...)
taz, 17.02.2003

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taz-Chefredakteurin Bettina Gaus richtet den Blick nach vorn und prophezeit ein Auseinanderbrechen der Antikriegs-Kräfte, sobal der Irak-Krieg in Gang gekommen ist. Auszug aus dem Leitartikel "Kuscheliger wird's nicht":

(...) US-Strategen wissen schon, warum sie sich weder in den Wiederaufbau Afghanistans noch in den des Irak verwickeln lassen wollen. Wenn ein Irakkrieg tatsächlich nach wenigen Wochen zu Ende sein sollte und Saddam Hussein entmachtet ist: Wie viele derjenigen, die am Wochenende für den Frieden demonstriert haben, werden dann meinen, dass sie sich vielleicht getäuscht haben? Dass der Erfolg doch die Mittel rechtfertigt? Die langfristigen Folgen für die Region und die Welt werden - zunächst - kein Thema sein, wenn die Bomben nicht mehr fallen. Auch deshalb, weil sich die kurzatmige westliche Welt daran gewöhnt hat, in ganz anderen Zeiträumen zu denken als alle anderen Nationen. Die scheinbare Einheitsfront der Demonstranten dürfte infolgedessen schnell zusammenbrechen. So kuschelig wie am letzten Wochenende wird es nie wieder sein.
Die Kriegsgegner haben viel weniger miteinander gemein, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Massendemonstrationen sind auch gut für die Seele. Gemeinsam sind wir stark: Diese irrige Annahme wärmt seit je das Herz. Gemeinsam mit welchem Anliegen? Das Ziel, die Inspektionen zu verlängern und zu vertiefen, ist ein Banner, hinter dem sich (noch) alle Gegner eines Angriffs auf Bagdad versammeln können. Aber was soll die Konsequenz sein, falls Saddam Hussein auch in einigen Wochen nicht der demokratische Musterknabe dieser Welt sein wird? Ist Krieg dann legitim? Darüber wird gestritten werden, während sich einige weitere Teilnehmer der Friedensdemonstrationen nach Hause verabschieden. (…)
taz, 17.02.2003


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