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In innerer Wahrhaftigkeit

Vor 100 Jahren auf dem Hohen Meißner: Gründungsakt der freien deutschen Jugendbewegung

Von Arno Klönne *

Einhundert Jahre sind es im Oktober dieses Jahres seit jenem Fest auf dem Hohen Meißner, das als Gründungsakt der deutschen Jugendbewegung gilt. Die »Freideutsche Jugend« konstituierte sich dort und sagte über sich selbst, sie wolle »nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten«. Eine vielfältige und durchaus widersprüchliche Wirkungsgeschichte hat diese »Meißner-Formel« hinter sich. Auch wenn sie heute nicht gerade aufregend scheint, einst wurde sie wahrgenommen als frontenbildend in der deutschen Kultur.

Derzeit bringt das Jubiläum des jugendbewegten Auftritts 1913 eine Fülle von Erinnerungsarbeiten hervor. Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg nahm den Jahrestag zum Anlass einer großen Ausstellung »Aufbruch der Jugend«; das Deutsche Literaturarchiv Marbach veranstaltete ein Symposium, das der Frage nachging, was denn nun jugendbündische »Prägung« lebensgeschichtlich bedeutet habe.

Da durfte auch »Der Spiegel« nicht fehlen. Das Magazin bot dem Publikum Eindeutigkeit im Urteil über den »Ersten Freideutschen Jugendtag« und gleich dazu über die gesamte Historie der Jugendbewegung an: »Hohl und richtungslos, verquast« sei die »Meißner-Formel« gewesen, »Rassenwahn am Lagerfeuer« habe mit dem »Ringelpiez im Kaufunger Wald« begonnen. Dort sei der Weg bereitet worden in eine »völkische« Weltanschauung. »Liberale Demokratie geht anders«, mahnt der Autor die Wandervögel aus Kaisers Zeiten ab.

Da kommt, wer sich sich in der Geschichte der deutschen Jugendgenerationen zwischen dem Wilhelminismus und den Trümmerjahren nach dem Untergang des »Dritten Reiches« ein bischen auskennt, ins Staunen. Weshalb nur reagierte denn da die deutschnationale Presse auf das Meißner-Treffen 1913 mit Wutgeschrei? Warum warnte die Führung der Hitler-Jugend vor der »verderbenden« Meißner-Formel? Wieso forderte das Nationalkomitee Freies Deutschland 1943 über seinen Rundfunksender die jungen Deutschen auf, sich den »Idealen der Meißner-Jugend« zuzuwenden? Und wie kamen junge deutsche Nazigegner im westlichen Exil dazu, ihre Gruppen »Freie Deutsche Jugend« zu nennen, an die »Freideutsche Jugend« erinnernd? Weshalb wurde der Name aufgegriffen, als 1946 in den deutschen Besatzungszonen ein Jugendverband sich gründete, der pluralistisch sein wollte und schwor: »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg«?

Geschichtliche Realität hat die für spätere Deuter unangenehme Eigenschaft, Ambivalenzen zu enthalten, noch nicht vorentschiedene Entwicklungsmöglichkeiten und auch Antriebe, die in gegensätzliche Richtungen führen können. Das Meißner-Treffen 1913 signalisierte den Anspruch junger Leute auf einen sozialen Raum, der frei sein sollte von der Reglementierung durch Schule, Elternhaus und staatliche »Jugendpflege«. Als jugendkulturelle Form dafür war damals attraktiv der Gruppenstil des um die Jahrhundertwende aufgekommenen »Wandervogels« mit seinen großen Fahrten, »Nestern« für »Heimabende« und Singerunden am abendlichen Feuer. So bot sich die Gelegenheit, zeitweilig der Kontrolle erwachsener Autoritäten zu entgehen, eigenwillige Erfahrungen zu machen. Politisch enthielt dieses Jugendmilieu noch keine Festlegung.

Es ist wahr: Schon beim »Freideutschen Jugendtag« vor dem Ersten Weltkrieg waren »deutschvölkische«, auch antisemitische Stimmen zu hören, vornehmlich von erwachsenen Gästen, die sich als »Vordenker« für die bewegte Jugend anboten. Und in der Weimarer Republik breiteten sich in jugendbewegten bürgerlichen Bünden nationalistische, das »Soldatentum« verherrlichende und zum Teil auch rassistische Leitbilder immer mehr aus; hier wuchs Gefolgschaft für die »Konservative Revolution« heran, wurde ideologische Vorarbeit für das NS-System geleistet. Wahr ist auch: Die Hitler-Jugend knüpfte nach 1933 daran an, ihre Anziehungsfähigkeit hing damit zusammen, dass sie sich Formen aus der Jugendbewegung zunutze machte.

Christian Niemeyer legt all dies jetzt noch einmal dar in seiner Studie über »Die dunklen Seiten der Jugendbewegung – Vom Wandervogel zur Hitlerjugend« (Francke Verlag, 272 S., geb., 29,99 €). Beschrieben wird bei ihm erstmals, wie nach 1945 in der Altbundesrepublik »Hausgeschichtsschreiber« aus der rechtsgerichteten Szene von Jugendbünden vor 1933 dieses Kapitel der Vergangenheit zu verdecken suchten und dabei Geschichte selektierten.

Aber die historische Jugendbewegung hatte auch andere Seiten: Beim Meißner-Treffen 1913 wurde vor wilhelminischer »Kriegeslust« und deutschnationaler »Seelenuniform« gewarnt. Nicht wenige junge Leute aus der »Freideutschen Jugend« engagierten sich nach 1918 in linken und pazifistischen Organisationen . Die Arbeiterjugendverbände wurden »jugendbewegt«, sie übernahmen viel aus der Tradition der Meißner-Jugend. Und im »Dritten Reich« erklärten Staat und Hitlerjugendführung das »Ende der Jugendbewegung«; der Anspruch auf Selbstbestimmung der jugendlichen Gruppe und ihrer Aktivitäten war nicht vereinbar mit dem nationalsozialistischen Erziehungssystem. Die illegalen »bündischen Umtriebe« wurden als »staatsgefährdend« verfolgt. »Vom Wandervogel zu den Edelweißpiraten« lässt sich diese historische Linie benennen.

In einem ebenfalls in diesem Jahr erschienenen Band »Jugendbewegt geprägt« (V&R Unipress, 819 S., br., 74,90 €) herausgegeben von Barbara Stambolis, sind die dunklen wie die hellen Seiten der historischen deutschen Jugendbewegung jetzt durch biografische Essays deutlich gemacht. Jugendbewegte Herkunft hat so manche Bürgersöhne nicht davon abgehalten, sich in die Dienste des »Dritten Reiches« zu begeben und dort Karriere zu machen. Aber für viele Männer und auch Frauen des Widerstandes war das Erlebnis der Jugendbewegung ein Motiv, sich der Nazi-Herrschaft nicht zu fügen. Zu Anfang des Buches von Stambolis stehen – das Alphabet will es so – Lebensbeschreibungen von Wolfgang Abendroth und Otto Abetz. Der erste war im Widerstand, dann Häftling; aus einer »Bewährungseinheit« ging er zu den griechischen Partisanen über. Der zweite war Hitlers Botschafter im besetzten Frankreich und beteiligt an Deportationen. »Den« jugendbewegten Weg vom Lagerfeuer in die Politik hat es nicht gegeben.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 5. Oktober 2013


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