Globalisierung und Frieden
Zur Tagung von IWF und Weltbank in Prag 2000
Von Prof.Dr.Ernst Lüdemann
Wenn am 25.September in Prag die 55.Jahrestagung des Internationalen
Währungsfonds (IWF) und der "Weltbank" (die eigentlich "Internationale Bank
für Wiederaufbau und Entwicklung" heißt) beginnt, werden Tausende auf den
Straßen der Stadt an der Moldau sein und lautstark ihre Forderungen an diese
beiden Organisationen zum Ausdruck bringen. Die Proteste gegen die
Aktivitäten von IWF und Weltbank, zu denen eine "Initiative gegen
wirtschaftliche Globalisierung" aufgerufen hat, werden gewiß denen im
November 1999 in Seattle (aus Anlaß der Tagung der Welthandelsorganisation
WTO) und im April dieses Jahres in Washington (während der Frühjahrstagung
von IWF und Weltbank) nicht nachstehen.
Diese beiden Organisationen sind in der letzten Zeit zunehmend unter Kritik
geraten. Für Politiker und Wirtschaftsbosse in den Industrieländern werden
IWF und Weltbank als Organisationen betrachtet, deren Job es ist, die
Weltwirtschaft zusammenzuhalten, und die Globalisierung ist eine
Entwicklung, die ganz und gar den eigenen Interessen entspricht.
Zu denen, die die Praktiken der beiden Organisationen kritisieren, gehört
seit einiger Zeit auch der USA-Ökonom Joseph Stiglitz (vor einigen Jahren
unter anderem Chef der Wirtschaftsberater von Präsident Clinton), der sich
schon während seiner Tätigkeit als Chefökonom der Weltbank, die er kürzlich
vorzeitig beendete, eindeutig gegen den bei der Kreditvergabe an
Entwicklungsländer geltenden "Washington Consensus" wandte, auf den sich der
IWF und die Weltbank schon vor zwei Jahrzehnten verständigt hatten.
"Strukturelle Anpassung"
Diese Vereinbarung besagt, dass die als Voraussetzung für die Vergabe von
Krediten geforderte "strukturelle Anpassung" auf folgenden Wegen zu erfolgen
habe: Verringerung von Staatsausgaben und Subventionen; Privatisierung
staatlicher Unternehmen; Öffnung der Länder für ausländische Waren und
Kapitalanlagen; Förderung des Exports von Rohstoffen und anderen Waren (in
vielen Fällen mit Nachteilen für die für die Binnenmärkte produzierenden
kleinen Unternehmen).
Welche Folgen diese Praktiken für die Entwicklungsländer haben, wird
deutlich, wenn man die Lage der Weltwirtschaft etwas näher betrachtet. Dann
ist auch der enge Zusammenhang zwischen Globalisierung und Frieden besser zu
erkennen, der zuweilen etwas außer Sicht gerät. Was heute "Globalisierung"
genannt wird, ist die in der Gegenwart erreichte Stufe der schon seit dem
19.Jahrhundert im Gange befindlichen Internationalisierung der Wirtschaft,
die in jüngster Zeit vor allem durch die wissenschaftlich-technische
Revolution vorangetrieben worden ist. Besonders das Entstehen eines
weltweiten Telekommunikationsnetzes hat bei der Globalisierung eine
wesentliche Rolle gespielt.
Diese Entwicklung hat aber nicht nur ökonomische Ursachen, sondern hängt
auch damit zusammen, dass sich das politische Gesicht der Erde gründlich
verändert hat: Der Zusammenbruch des Realsozialismus sowjetischer Prägung
hat zwar die Konfrontation zwischen den beiden bis dahin bestehenden
Paktsystemen beendet, aber keineswegs zu mehr Frieden geführt. An der Wende
vom 20. zum 21.Jahrhundert gibt es sogar so viele Kriege, Bürgerkriege usw.
wie schon lange nicht mehr.
Kapitaltransaktionen beliebigen Umfangs
Besonders die großen westlichen Mächte, allen voran die USA, verfolgen ihre
Ziele als "Sieger der Geschichte" sehr viel hemdsärmeliger als dies zu
Zeiten des Bestehens des Warschauer Paktes der Fall war (wie sich unter
anderem am Beispiel des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien zeigte); und
das im wesentlichen in diesen Ländern beheimatete große Kapital nutzt die
Vorteile der Globalisierung durch die inzwischen möglich gewordene
Vernetzung aller nationalen und regionalen Kapitalmärkte zu einem einzigen
Organismus, der Kapitaltransaktionen beliebigen Umfangs geradezu mit
Lichtgeschwindigkeit ermöglicht. Das große Kapital ist damit in der Lage,
eine fast uneingeschränkte Kontrolle über die gesamte Weltwirtschaft
auszuüben.
Dies geschieht auch mit Hilfe der in den meisten Industrieländern bereits
durchgesetzten und durch diese sowie durch IWF und Weltbank auch von allen
übrigen Ländern der Erde energisch geforderten "Liberalisierung" der
Wirtschaft, um alles ohne Ausnahme den Prinzipien der Marktwirtschaft zu
unterwerfen.
Die nach diesem Konzept betriebene Umverteilung von unten nach oben läuft
darauf hinaus, volkswirtschaftliche Gewinne zu privatisieren, während
entstehende Defizite auf die breiten Massen abgewälzt werden. Dies führt zu
einer Vergrößerung der Kluft zwischen Reichtum und Armut , jedenfalls als
allgemeine Tendenz, mit der sich die auf die Macht des großen Kapitals
gründende ökonomische Entwicklung durchsetzt.
Kluft wird immer größer
In der Gegenwart zeigen sich die "Risiken und Nebenwirkungen" der von den
Interessen des Kapitals bestimmten Entwicklung der Weltwirtschaft ganz
deutlich, wenn man deren Grundlinien an Hand weniger Daten - und ohne
jegliche eigentlich notwendige Differenzierung - nachzeichnet, denen
sämtlich statistische Veröffentlichungen der UNO und anderer Organisationen
zugrunde liegen. Als Beispiel mögen einige Angaben über die
gesamtwirtschaftliche Entwicklung - die reale Vergrößerung des
Bruttoinlandsprodukts (BIP), d.h. der Summe aller produzierten Waren und
Dienstleistungen - für die letzten beiden Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts
(also für die Zeit zwischen den Jahren 1980 und 2000) dienen:
Zwar wiesen die Entwicklungsländer in dieser Zeit ein insgesamt höheres
Wachstumstempo auf als die Industrieländer. Weil jedoch die Bevölkerungszahl
in den Entwicklungsländern im Zeitraum 1980-2000 mehr als 3,7mal so schnell
zunahm wie in den Industrieländern, ist die Steigerung des BIP je Einwohner
- der eigentliche Maßstab für einen Vergleich des ökonomischen
Entwicklungsniveaus zwischen Ländern bzw. Regionen - in den
Entwicklungsländern deutlich geringer gewesen als in den Industrieländern
(2000 gegenüber 1980 in Prozent):
Industrieländer:
BIP: + 60 %
Bevölkerung: + 14 %
BIP je Einwohner: +40 %
Entwicklungsländer
BIP: + 90 %
Bevölkerung: + 53 %
BIP je Einwohner: + 24 %
Im Jahre 1980 war das BIP je Einwohner in den Industrieländern im
Durchschnitt 10mal so groß wie in den Entwicklungsländern, im Jahre 2000
jedoch fast 12mal. Die Kluft zwischen den Industrieländern und den
Entwicklungsländern im ökonomischen Entwicklungsniveau ist also noch größer
geworden statt sich zu verringern.
Obwohl die Angaben über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung schon eine
deutliche Sprache sprechen, enthüllen sie längst nicht die ganze Wahrheit
darüber, wer in der Weltwirtschaft das "Sagen" hat. Das sich immer mehr
internationalisierende große Kapital übt nicht nur in den Industrieländern
die ökonomische Macht aus (und beeinflußt dadurch auch auf vielerlei Weise
die Politik), ihm gehört zudem ein wesentlicher Teil des in den
Entwicklungsländern und in den ehemals sozialistischen Ländern angelegten
Kapitals (während umgekehrt diesen Ländern vom Kapital in den
Industrieländern so gut wie nichts gehört).
Wer weiß schon, dass sich die "Filetstücke" der Wirtschaft der Tschechischen
Republik längst in ausländischen Händen befinden und dass die Banken in
Polen, Ungarn usw. zum größten Teil von internationalen Bankkonzernen
kontrolliert werden? Man wagt sich kaum zu fragen, ob die Wirtschaft
Rußlands wirklich noch voll und ganz eine "russische Wirtschaft" ist.
Um es kurz zu machen: Wenn sich der Anteil der Industrieländer an der
gesamtwirtschaftlichen Leistung aller Länder der Erde derzeit auf etwa 65
Prozent beläuft, dürfte der Anteil des Kapitals aus Industrieländern am
"Weltkapital" mindestens 80 Prozent betragen - wenn nicht noch mehr. Das ist
die Machtbasis, auf die sich der Einfluß der Industrieländer auch in allen
internationalen Organisationen stützt.
Verheerende Folgen
Es gibt noch zahlreiche weitere Hinweise darauf, wie die Weltentwicklung
auch in jüngster Zeit zu Lasten der Entwicklungsländer verlaufen ist, denn
die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit haben sich in der Tendenz
weiter verschlechtert, und davon waren und sind hauptsächlich
Entwicklungsländer betroffen. Um nur einige Beispiele zu nennen:
-
Die Verwüstung ganzer Landstriche greift immer weiter um sich. Die
landwirtschaftlich nutzbaren Flächen verringern sich. Die UN-Umweltbehörde
schätzt, dass fast ein Viertel der globalen Landmasse von Verödung bedroht
ist.
-
Auch der zunehmende Mangel an Trinkwasser macht sich vor allem in
Entwicklungsländern bemerkbar, während sich die meisten Industrieländer im
Verhältnis dazu einen verschwenderisch hohen Wasserverbrauch leisten. 1995
hatten erst 3 Prozent der Weltbevölkerung an akuter Wasserknappheit zu
leiden, in wenigen Jahrzehnten könnte davon schon jeder fünfte Bewohner der
Erde betroffen sein.
-
Die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, hat sich in den
letzten fünf Jahren um 200 Millionen auf etwa 1,5 Milliarden vergrößert. 800
Millionen Menschen sind weltweit unterernährt, 180 Millionen Kinder hungern.
-
Und da sich das schnelle Wachstum der Bevölkerung in vielen Ländern nur
wenig verlangsamt hat, führt der Druck der Überbevölkerung nicht nur zu
einem Anwachsen solcher "Mega-Städte" wie Mexiko City oder Mumbai (Bombay),
sondern auch zu einer allmählich anschwellenden Lawine von Migranten aus der
"Dritten Welt" in die Industrieländer, von der wir in Mitteleuropa bisher
nur die Anfänge zu spüren bekommen haben.
Gefahr für den Weltfrieden
Wenn man alles, was vorstehend lediglich andeutungsweise ausgeführt wurde,
zusammennimmt, kann man eigentlich nur zu einer Überzeugung kommen: Diese
Entwicklung kann auf keinen Fall dazu führen oder dazu beitragen, dass die
Weltentwicklung sicherer wird. Im Gegenteil besteht die Gefahr, dass die
schon jetzt offenkundigen Spannungen und Auseinandersetzungen weiter
zunehmen, dass die Zahl der Kriege und Bürgerkriege anwächst. Zwar gibt es
"Weltfrieden" in dem Sinne, dass - soweit wir voraussehen können -
wahrscheinlich kein "großer Krieg" mehr stattfinden wird, damit herrscht
aber auf der Erde noch lange kein Frieden.
Im 21.Jahrhundert wird die Friedensgefährdung hauptsächlich von der
wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeit und von den zu befürchtenden
Auseinandersetzungen um bewohn- bzw. bebaubares Land, um Wasser und um
Rohstoffquellen ausgehen (unter denen der Kampf um die Kontrolle der
Energiequellen eine besondere Rolle spielen dürfte).
Aus alledem ergibt sich die volle Berechtigung von Aktionen gegen das
bestehende System der Weltwirtschaft. Tagungen wie die des IWF und der
Weltbank sind gute Gelegenheiten, um Forderungen vorzutragen und die
Öffentlichkeit zu erreichen. Doch bloßer Protest gegen das Stattfinden
solcher Tagungen oder gegen "die Globalisierung" nützt nichts. Eine
nüchterne Einschätzung der Situation gebietet es festzustellen, dass diese
Globalisierung unter den weltweit herrschenden Eigentums- und
Verteilungsverhältnissen weder zu verhindern noch zu stoppen oder gar
"umzukehren" ist.
Es kann nur darum gehen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um den
ungehemmten weltumspannenden Aktivitäten des großen Kapitals und ihren
Folgen entgegenzuwirken. Jeder kleine Schritt - auch öffentlicher Protest -
ist wichtig. Bei aller Hingabe der Beteiligten genügt es jedoch nicht, nur
"dagegen" zu sein. Es wäre von Vorteil, ein sehr breites Spektrum von
Forderungen zu formulieren, denen alle jene Kräfte zustimmen können, die
sich auf die eine oder andere Weise gegen die bedrohlichen Entwicklungen auf
der Erde wenden, deren gemeinsame Ursache letzten Endes die faktische
Allmacht des großen Kapitals ist.
Alternativen
Was wären solche Forderungen? Im Rahmen dieses Beitrages kann, unter
Verwendung zum Teil bereits bekannter Überlegungen, nur deren Richtung
angedeutet werden. Im einzelnen ginge es unter anderem um Forderungen nach
Beendigung von Praktiken, die den Entwicklungsländern schaden, wie zum
Beispiel die quasi zwangsweise auferlegte "strukturelle Anpassung"; nach
Kontrolle internationaler spekulativer Kapitalbewegungen (jedoch bei
Fortbestehen im Prinzip der freien Bewegung von Menschen, Waren,
Dienstleistungen und Kapital); nach Einführung einer Art Zoll auf
grenzüberschreitenden Kapitalverkehr ("Tobin-Steuer"); nach Streichung eines
erheblichen Teils der Schulden der Entwicklungsländer; aber auch nach
Realisierung der von den Industrieländern gegebenen Zusage, 0,7 Prozent
ihres Bruttoinlandsprodukts für staatliche Entwicklungshilfe zu verwenden.
Wenn die Weltwirtschaft wirklich "gesunden" und sich kontinuierlich sowie
vor allem unter friedlichen Bedingungen entwickeln soll, ist aber noch mehr
erforderlich. Es sollten auch folgende Forderungen erwogen bzw. bekräftigt
werden:
-
Keinerlei Exporte von Waffen und militärischen Ausrüstungen sowie von
Einrichtungen zu deren Herstellung in Länder, in denen kriegerische
Auseinandersetzungen im Landesinnern oder mit Nachbarstaaten stattfinden;
-
Unterbindung von Versuchen der Industrieländer, ihre Umweltschädigung auf
Entwicklungsländer abzuwälzen;
-
Vereinbarung internationaler Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung aller
Länder der Erde mit Trinkwasser.
Es kommt also darauf an, alles zu fördern, wodurch die ökonomische und
soziale Ungleichheit im Weltmaßstab schrittweise verringert und damit auch
die Bedrohung der friedlichen Entwicklung der Menschheit abgebaut werden
kann.
Aus: PAX REPORT, Nummer 6/7, Juli/August 2000
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