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Zwei Jahre Rot-Grün - Was hat es gebracht?

Von Ulrich Albrecht (Prof. an der FU Berlin, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung)

Die derzeitige Bundesregierung anzumachen, gerade von friedenspolitischer Seite her, ist nicht Thema. Dazu ist das rot-grüne Projekt zu sehr auch das eigene politische Projekt der Friedensbewegung. Nicht nur gibt für diese keine andere politische Alternative in der Regierungspolitik. Verantwortlich Politik machen in dieser Regierung und in der Bundestagsmehrheit auch Menschen, die aus der Friedensbewegung kommen, die man kennt, mit denen manche gar befreundet sind. Solche Bindungen sollten Anlaß geben, solidarisch, aber genau zu fragen, wie es in der Sicht der Friedensbewegung mit der Halbzeitbilanz der Bundesregierung aussieht.

Der Kalte Krieg ist zu Ende. Das war immerhin Krieg, wenn auch nur in politischer Konfrontation und mit einem immensen Aufwand an Ressourcen. Die deutsche Antwort auf die Alternative, wie Friedenspolitik nach der Zeitenwende zu gestalten sei, hat die Regierung Kohl nicht mehr gegeben. Auf die Frage aus dem Ausland, wie denn nun die Außenpolitik des vereinigten Deutschland aussähe, kam aus Bonn wiederholt die hinhaltende Antwort: wir sind noch beim Überlegen. Um so gespannter durfte man sein, wie die rot-grüne Bundesregierung diese Frage beantworten würde.

Es geht nicht nur um die Frage, wie die Bundeswehr umzugestalten sei, welche Aufgaben sie künftig zu erfüllen hätte, wie sie dafür zu strukturieren sei, und dergleichen. Vor zehn Jahren, im Zuge der Vereinigung, wurde von Kanzler und Außenminister feierlich geäußert: "Von deutschem Boden geht nur Frieden aus" (und nur staatsbürgerlich ungefestigte Typen wie der Autor dieser Zeilen fragten sich, ob damit im Zweifelsfall auch deutsche Soldaten im Marsch "out of area" mitgedacht würden). Der 2+4-Vertrag über die äußeren Aspekte der Einigung, prüft man seine einzelnen Bestimmungen, erweist sich zur Hälfte als Militärvertrag: die Deutschen müssen ihren Verzicht auf Massenvernichtungsmittel wiederholen, die Obergrenze der Truppenstärke der künftigen Bundeswehr wird von den alliierten Siegermächten festgelegt (auch wenn dies formal eine deutsche Selbstbeschränkung war), um die Kernpunkte anzuführen. Das war seinerzeit die Negativliste. Aber wie würde Rot-Grün die Antwort auf die Frage nach der besonderen Friedensaufgabe der Deutschen geben?

Zuallererst ist die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg anzuführen. Ein Sündenfall, in der grundsätzlichen Bedeutung, die dieses biblische Ereignis für den Schicksalsweg der Schöpfung angibt. Um Sekundärtugenden zu demonstrieren, Entscheidungsfähigkeit und Loyalität zur NATO, entschlossen sich der designierte Kanzler und sein künftiger Außenminister bei ihrem Antrittsbesuch im Herbst 1998 in Washington, die "activation order" des NATO-Militärapparates mit zu tragen. Sie verzichteten auf das jeder neu antretenden Regierung zugestandene Recht, sich in den ersten hundert Tagen erst einmal selber zu rappeln, und auf so prinzipielle Anfragen vorerst hinhaltende Antworten zu geben.

Die Kriegsentscheidung wird, schon wegen der Klage der PDS beim Bundesverfassungsgericht, Thema der deutschen Politik bleiben. Sie ist nicht zu rechtfertigen. Mittlerweile hat ein Bundesrichter gesprochen, wenn auch einer a.D. In einem eindrucksvollen Beitrag in einer kleinen friedenspolitischen Zeitschrift (4/3, Fachzeitschrift zu Kriegsdienstverweigerung, Wehrdienst und Zivildienst, 18. Jg., Nr.1, März 2000, S.20-25) hat Helmut Simon die Friedensbindung des Grundgesetzes nochmals breit nachgearbeitet und gelangt zu dem Befund, "daß eine Beteiligung deutscher Streitkräfte auch durch das deutsche Verfassungsrecht nicht abgedeckt war."

Die Kriegsentscheidung fiel elitär, unter zwei Spitzenpolitikern. Das führt zu einer zweiten Kritik, nämlich der Art und Weise, wie Rot-Grün Politik macht. Von Partizipation, auch nur der Einbeziehung der eigenen Parlamentsfraktionen oder der eigenen Parteibasis, in solch eine Schlüsselentscheidung wie der zum Krieg war keine Rede, das wurde nicht einmal als Problem gesehen. In einer governementalistischen Manier, die Kohl nicht besser gekonnt hätte, wurde von den beiden Spitzenpersonen des rot-grünen Bündnisses über den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr entschieden. Schröder und Fischer haben die auf sie wartenden Ämter als Hoheitsträger begriffen, nicht aber als Herausforderung, einen neuen Politikstil zu wagen. Die Art und Weise aber, wie man miteinander umgeht, wie man sich auf seine politische Basis bezieht, gehört neben den politischen Inhalten zum alternativen Politikverständnis nicht nur in der Friedensbewegung, sondern auch deren roten und grünen Rändern.

Dabei hatten besonders die Grünen einst bei ihrem Anfang im Bundestag einen alternativen, basisnahen Politikstil annonciert. Das Koalitionsabkommen atmet noch von neuem Aufbruch, hin zu mehr Bürgerbeteiligung. Nichts davon in den vergangenen zwei Jahren Regierungspraxis. Der Kanzler, der Außenminister agieren ganz im Gestus der "hohen Politik".

An Versuchen, andere Wege zu gehen, hat es nicht gefehlt. Mein Kollege Ulrich K.Preuß und ich haben anläßlich des EU-Gipfels in Köln auf ein ermutigendes Beispiel aufmerksam gemacht: beim britischen Vorgipfel in Cardiff hatte Labour-Außenminister Cook nicht nur an der Schlußveranstaltung des Gegen-Gipfels von Nichtregierungsorganisationen teilgenommen und sich dessen Arbeitsergebnisse angehört. Er hatte auch dafür gesorgt, daß der Gegengipfel Fördermittel der EU-Kommission erhielt. Unser Vorschlag stieß zunächst auf ein positives Echo. Dann war plötzlich nicht mehr vom Auftritt des Ministers die Rede - am Ende hat wohl ein niedrig rangiger Beamter des Außenministeriums am Kölner Gegen-Gipfel teilgenommen. Und dieser Hergang scheint nicht dem Beamtenapparat anzulasten zu sein. Von einer Anzahl von Mitarbeitern ist die Auffassung zu hören, daß mit dem grünen Minister doch auch ein neuer Stil im Amte Einzug halten würde.

Diese beiden ersten Prüfpunkte reichen eigentlich. In der Frage der Kriegsentscheidung und in der Art und Weise, wie diese getroffen und umgesetzt wurde, haben die rot-grünen Regierenden Antworten gegeben, die für eine Abfuhr hinreichen. Es bleibt weiteres anzuführen, was die Negativbilanz einer friedenspolitischen Würdigung der derzeitigen Bundesregierung fortschreibt. Diese hatte im April 1999 auch der neuen Militärstrategie der NATO ihren Segen gegeben. Gewiß kam die neue Bundesregierung spät in den Prozeß. Aber auch hier hat sie gekniffen. Die französische Regierung hatte in den Verhandlungsrunden vor der Verabschiedung des NATO-Dokumentes etwa bei der Frage künftiger out-of-area Einsätze des Westbündnisses darauf bestanden, daß solche Aktionen nur mit einem Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen möglich sein sollten (das fehlende UN-Mandat für den Kosovo-Luftkrieg spielte ja hierzulande im vergangenen Jahr zu Recht eine große Rolle). Auf französischer Seite erwartete man von der neuen rot-grünen Regierung Unterstützung in dieser Frage. Nichts sei erfolgt, so erbittert französische Teilnehmer an den Verhandlungen, von deutscher Seite sei auch nach dem Regierungswechsel nichts gekommen.

Gemäß der Koalitionsvereinbarung äußerte Außenminister Fischer im ersten Amtsjahr das Begehren, die NATO möge auf einen möglichen Ersteinsatz von Kernwaffen verzichten. Andere Atommächte hatten einen solchen Verzicht ausgesprochen. Fischers Kabinettskollege Scharping fiel ihm in den Rücken. Aus NATO-Treue rückte Rot-Grün vom Thema Erstschlag ab.

An sich hatte die neue Bundesregierung vereinbart, sich für weitere Schritte zur atomaren Abrüstung einzusetzen. Aber nicht einmal zu den auf deutschem Territorium verbliebenen Fliegerbomben der USA bezieht sie eine Position. Wegen der Irrelevanz dieser Bomben für die europäische Sicherheitspolitik hatten die Briten ihre letzten Atomwaffen im Oktober 1998 aus der Bundesrepublik abgezogen. Die gleiche Logik müßte für die verbliebenen rund 80 amerikanischen Bomben in der Eifel gelten. Der Koordinator für die deutsch-amerikanischen Beziehungen, Karsten Voigt, äußerte auf eine diesbezügliche Anfrage: "Die stören doch niemanden."

So bleibt Grundmuster von rot-grün in der Sicht der Friedensbewegung ein Lavieren um die Tabus der NATO-Politik herum, das Bestreben, weder Amerikaner noch Franzosen in ihren divergierenden Vorstellungen zur Sicherheitspolitik zu strapazieren, und die heißen Eisen einer ihren Namen verdienenden Friedenspolitik lieber erst gar nicht anzupacken.
Aus: Friedenspolitische Korrespondenz, Nr. 3/2000, S. 3-4

Vgl. zum selben Thema: Die zehn Todsünden in der Außen- und Sicherheitspolitik - Zur Halbzeitbilanz der Bundesregierung

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