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Der Wind dreht sich

Die Medien werden allmählich kritischer

Um den 1. Jahrestag des Beginns des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien wurden immer mehr Hintergründe bekannt, die den Krieg in einem neuen Licht erscheinen lassen. Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel und einen Kommentar aus dem Hamburger Abendblatt sowie einen Kommentar aus der Hess.-niedersächs. Allgemeinen vom 23. März 2000.

Das späte Eingeständnis

Verteidigungsminister Scharping unter Druck

Hamburg - Ein Jahr nach Beginn des Kosovo-Konflikts am 21. März 1999 ist ein Streit um Hintergründe und Folgen des ersten NATO-Militäreinsatzes entbrannt. Während NATO-Generalsekretär George Robertson die Luftangriffe gegen serbische Ziele ausdrücklich verteidigte, gab die Allianz erst jetzt zu, dass sie bei diesen Kampfeinsätzen große Mengen an uranhaltigen Wuchtgeschossen verwendet hat. Sie gelten als potenziell hochgiftig.

Unterdessen geriet Verteidigungsminister Rudolf Scharping wegen des umstrittenen Hufeisenplans weiter unter Druck. Dieser angebliche Plan des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic zur gewaltsamen Vertreibung der Albaner im Kosovo war von Scharping als Legitimation für den Militäreinsatz gegen die jugoslawische Armee verwendet worden. Es gibt jedoch starke Hinweise, dass dieser Plan in Bonn manipuliert wurde.

Nach Angaben der Umweltorganisation der Vereinten Nationen (Unep) in Genf haben US-Soldaten bei rund 100 Angriffsflügen mit A-10-Flugzeugen 31 000 Geschosse mit insgesamt zehn Tonnen abgereichertem Uran über dem Kosovo verschossen. Unep bezog sich auf einen Brief von Robertson an UNO-Generalsekretär Kofi Annan. Die Unep bedauerte, dass sie die Information trotz Anfrage im vergangenen Jahr erst jetzt erhalten habe.

Die Munition für die Erdkampf-Jets, im Soldatenjargon "Warzenschweine" genannt, zeichnet sich auf Grund des Uranmantels durch besonders hohe Durchschlagskraft aus. Es hieß, die Geschosse seien vor allem entlang der Grenze zu Albanien, südwestlich von Kosovska Mitrovica im Nordkosovo und bei Klina eingesetzt worden. In den Gebieten, wo die Uran-Mantelgeschosse niedergingen, sind jetzt auch deutsche Kfor-Soldaten stationiert.

Wie gesundheitsgefährdend der zurückbleibende Staub explodierter Geschosse für den Menschen ist, steht noch nicht fest. Die Weltgesundheitsorganisation WHO untersucht dies gegenwärtig. Die Einwohner der betroffenen Gebiete wurden von der Unep aufgefordert, ihren Kindern den Zugang zu den Fundstellen zu verwehren. Die US-Luftwaffe hatte bereits während des Golfkrieges 1991 Uran-Munition gegen Panzer und Panzerfahrzeuge eingesetzt, da sie Metall durchschlagen kann. Abgereichertes Uran fällt bei der Herstellung von Kernbrennstoffen oder Atomwaffen an und ist giftig, aber nur schwach radioaktiv.

Robertson sagte in seiner Bilanz des Krieges: "Hätte die NATO nicht reagiert, hätte sich die Gewaltspirale intensiviert, und die Zahl der Toten wäre stark gestiegen. Es hätte viele Hunderttausende von Flüchtlingen gegeben, und die ganze Region wäre destabilisiert worden." Er verteidigte die Luftangriffe, bei denen alles getan worden sei, zivile Opfer und Schäden zu vermeiden.

Im Streit um den Hufeisenplan forderte der frühere Verteidigungs-Staatssekretär Willy Wimmer Aufklärung von der Bundesregierung. Der CDU-Abgeordnete verlangte, dass "Verteidigungsminister Scharping dem Parlament Rede und Antwort stehen muss. Er muss sich vor Augen führen, dass dieser Plan Luftangriffe legitimiert und den Einsatz deutscher Soldaten vorbereitet hat. Dafür sind Menschen gestorben", sagte Wimmer. Ein Buch des früheren Brigadegenerals und heutigen OSZE-Beraters Heinz Loquai über den angeblichen Hufeisenplan begründe "erhebliche" Zweifel an Scharpings Darstellungen.

Sollten aber Zweifel bestehen bleiben, müsse die Bundesregierung Konsequenzen ziehen. "Ihr Schicksal hängt an einem seidenen Faden. Wir sind gnadenlos hinters Licht geführt worden. Noch nie haben so wenige so viele so gründlich belogen, wie im Zusammenhang mit dem Kosovokrieg", sagte Wimmer. Scharping schrieb in seinem veröffentlichten Tagebuch "Wir dürfen nicht wegsehen", er habe von Außenminister Joschka Fischer am 5 April ein Papier erhalten, "das die Vorbereitung und die Durchführung der Operation Hufeisen der jugoslawischen Armee belegt". Ludger Vollmer, Grünen-Staatsminister im Außenministerium, zu dem angeblichen Plan befragt, entgegnete lediglich, er "möchte dazu keine Stellung nehmen". Stellung hatte jedoch schon die frühere Chefanklägerin des UNO-Tribunals in Den Haag, Louise Arbour, bezogen. Im Nachrichtenmagazin "Spiegel" sagte Arbour: "Bei der Operation Hufeisen habe ich meine Zweifel an der Aussagekraft. Wäre das Dokument mit Deckblatt, Datum und Unterschrift, so wäre es fantastisch. Aber meist sieht so etwas eher nach Gesprächswiedergaben und Schlussfolgerungen aus. Das Beweisstück, das alles aufklärt, ist meistens nicht dabei." Am 19 April 1999 hatte Scharping Arbour Material über Kriegsverbrechen im Kosovo übergeben. "Habe ihr den Hufeisenplan, alle Aufnahmen der Drohnenflüge (unbemannter Aufklärungsflugkörper) und die kompletten Protokolle der bisher durchgeführten Befragungen überreicht", notierte Scharping damals in seinem Tagebuch. (HA/fjh)

Was Scharping nicht wusste

Hamburg - Immer wieder berichtete Verteidigungsminister Rudolf Scharping über die Verbrechen, die serbische Sicherheitskräfte im Kosovo an Albanern begingen. Zweimal musste der Minister seine Einschätzungen korrigieren. Oder er schwieg einfach, als er seine Behauptungen nicht beweisen konnte.

Am 27. April vergangenen Jahres präsentierte Scharping während seiner täglichen Pressekonferenz angeblich exklusive Bilder eines vermeintlichen Massakers in dem Dorf Rogova. Die Aufnahmen zeigten etwa zwei Dutzend tote, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Männer. Die Leichen lagen auf einem Hof, zwischen ihnen verstreut waren Waffen zu erkennen. Auf den Uniformjacken einiger Toter war das Abzeichen der UCK genäht. Im Hintergrund waren lachende serbische Spezialpolizisten zu erkennen. Die Fotos habe, so berichtete Scharping, ein deutscher OSZE-Beobachter unter Lebensgefahr am 29. Januar gemacht und sie dem Verteidigungsministerium erst kurz vor der Pressekonferenz zur Verfügung gestellt. Es seien Beweise dafür, dass serbische Sicherheitskräfte bereits im Januar mit der systematischen Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo begonnen hätten.

Scharping wusste offenbar nicht, dass auch ein Fotograf der Nachrichtenagentur Reuters Bilder von den Leichen in Rogova gemacht hatte. Die Agentur hatte die Bilder im Januar weltweit verbreitet. Sie waren vor allem in ausländischen Medien gedruckt worden.

Der Reuters-Fotograf sagte, dass die UCK-Kämpfer "unter ungeklärten Umständen" von den serbischen Sicherheitskräften getötet worden seien. Er könne weder bestätigen noch dementieren, dass es in Rogova ein Massaker gegeben habe.

Am 28. April ließ Scharping daraufhin die Sprecher des Verteidigungsministeriums erklären, er habe nicht gewusst, dass die Bilder nicht "exklusiv" waren. Es sei auch nicht die Frage, ob die Fotos ein "Massaker" zeigten. Sie belegten jedoch, dass es bereits vor Beginn der NATO-Luftangriffe "Gewalt im Kosovo" gegeben habe.

Zu Beginn des Krieges behauptete der UCK-Führer Hashim Thaqi, das Fußballstadion von Pristina sei in ein "Lager mit 100 000 Menschen verwandelt" worden. Zunächst zeigte das serbische Fernsehen, dann auch Luftaufnahmen der deutschen Aufklärungsdrohne ein leeres Stadion. Scharping wies dann daraufhin, dass auch unter den Rängen und in den Katakomben, die aus der Luft nicht zu erkennen sind, Tausende versteckt sein könnten. Belege für seine Vermutung legte der Verteidigungsminister nicht vor. (HA)


Scharping und der Jugoslawien-Krieg

Verdacht

Von EGBERT NIESSLER

Als vor einem Jahr die ersten Bomben auf Jugoslawien fielen, war das nicht nur der erste große Kampfeinsatz der NATO, es war vor allen Dingen auch das erste Mal seit 1945, dass deutsche Soldaten wieder an einer bewaffneten Auseinandersetzung teilnahmen. Das war nötig geworden, weil auf dem Balkan seit zehn Jahren Politik mit roher Gewalt betrieben wurde. Der Hauptakteur war Serbiens starker Mann Slobodan Milosevic - Opfer waren vor allem Tausende unschuldiger Menschen. Nicht noch einmal wollten sich Europäer und Amerikaner vorwerfen lassen, wie im Falle des bosnischen Srebrenica tatenlos zugesehen zu haben.Auch in Deutschland gab es viele Befürworter eines militärischen Eingreifens - zugleich aber auch dank der geschichtlichen Erfahrungen eine besonders hohe Hemmschwelle davor; vor allem in den pazifistischen Flügeln der damals frisch gebackenen Regierungsparteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen.

Außenminister Joschka Fischer fand starke Worte, um die deutsche Beteiligung an dem Unternehmen zu rechtfertigen. Die Lehre aus der Geschichte laute nicht nur nie wieder Krieg, sondern auch nie wieder Auschwitz. Verteidigungsminister Rudolf Scharping stand ihm in der Ausschmückung grausiger Details nicht nach und präsentierte der Öffentlichkeit den Hufeisenplan, der belegen sollte, dass Belgrad von langer Hand den Völkermord an den Kosovo-Albanern geplant habe. Milosevic als balkanische Hitler-Variante.

Nun gibt es viele Anzeichen dafür, dass der Plan nicht in Belgrad, sondern in Bonn entstanden ist. Zusammengestellt aus Beobachtungen aus zweiter und dritter Hand, motiviert vermutlich aus dem Glauben heraus, die eigenen Abgeordneten nur mit dem Beweis für den Nazi-Untaten vergleichbare Verbrechen zur dauerhaften Zustimmung zum ersten deutschen Kampfeinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg bewegen zu können.

Wäre dem so, käme das einem Betrug am Parlament und der Öffentlichkeit gleich, denn auch für eine gerechte Sache bleiben Lügen eben Lügen. Scharping und Fischer müssen Konsequenzen ziehen: Entweder den Verdacht entkräften - oder abtreten.


Der Kommentar aus der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen vom 23. März 2000:

Der blinde Krieg

In mehr als einer Beziehung war der Nato-Einsatz im Kosovo ein ganz gewöhnlicher, das heißt schmutziger Krieg. Die Erkenntnis kommt allerdings spät, zu spät. Was die Rolle der Medien ngeht, besteht sie vor allem in einer deprimierenden Selbsterkenntnis. Man war nicht Beobachter, schon gar nicht kritischer Beobachter, sondern Teilnehmer. Es lässt sich ja auch mit Bildern und ihren Deutungen Krieg führen. Es läst sich die Berichterstattung als Waffe einsetzen. Das ist im Kosovo-Krieg in reichem Maße geschehen. Es geschieht in allen modernen Kriegen. Die Journalisten wissen es und lassen sich doch immer wieder von den Politikern und den Militärs in den Dienst nehmen. Früher war es der Dienst fürs Vaterland, im Kosovo war es der Dienst für noch Höheres, fürs Menschenrecht und fürs Lebensrecht.

Es gab selten einen Krieg, der in seinen Motiven und Zielen so überhöht wurde. Und weil die Wirklichkeit nicht ganz so höllisch war, musste auch sie ins Apokalyptische überhöht werden. Verteidigungsminister Scharping war einer der großen Seher. Heute erinnert er sich nur ungerne an seine Visionen vom Völkermord, der nicht nur drohte, sondern angeblich im vollen Gange war. Die zahllosen Massengräber haben sich dann nicht gefunden. Darüber könnte man eigentlich froh sein. Tote gab es auch so genug. Aber offenbar nicht genug, um den Nato-Einsatz als unausweichlich erscheinen zu lassen.

Sieht man das Ergebnis, wird die Verlegenheit noch größer. Das Kosovo ist weder befreit noch befriedet. Und niemand weiß bis heute, wie es irgendwann seinen Frieden finden sollte, nicht mit einer ethnisch gemischten Bevölkerung. Es war, ie sich hrausstellt, ein blinder, ein blindwütiger Krieg, ein Krieg unter falscher Flagge.
Lothar Orzechowski

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